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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Dinge zu sagen, für die ihm diese Mitteilungsart passend schien. So sprach er mir von der kleinen Seejungfer in Andersens Märchen, das er außerordentlich liebte und bewunderte, nicht zuletzt die wirklich vorzügliche Schilderung des scheußlichen Bereichs der Meerhexe hinter den reißenden Strudeln, im Polypenwald, wohin das sehnsüchtige Kind sich getraut, um statt ihres Fischschwanzes Menschenbeine und durch die Liebe des {500} schwarzäugigen Prinzen – sie selbst hatte Augen »so blau wie die tiefste See« – vielleicht, wie die Menschen, eine unsterbliche Seele zu erlangen. Er spielte mit dem Vergleich zwischen den messerscharfen Schmerzen, die die stumme Schöne bei jedem Schritt auf ihren weißen Gehwerkzeugen zu erdulden sich bereit gefunden, und dem, was er selbst unaufhörlich auszustehen hatte, nannte sie seine Schwester in der Trübsal und übte übrigens eine Art von familiärer und humoristisch realer Kritik an ihrem Benehmen, ihrem Eigensinn, ihrer sentimentalen Versehntheit nach der zweibeinigen Menschenwelt.
    »Gleich mit dem Kult der auf den Meeresgrund geratenen Marmorstatue«, sagte er, »fängt es an, dem Knaben, der offenbar von Thorwaldsen ist, und an dem sie unerlaubt viel Geschmack findet. Die Großmutter hätte ihr das Ding wegnehmen sollen, statt zu erlauben, daß die Kleine auch noch eine rosenrote Trauerweide dazu in den blauen Sand pflanzt. Man hat ihr früh zuviel durchgehen lassen, und nachher ist das Verlangen nach der hysterisch überschätzten Oberwelt und nach der ›unsterblichen Seele‹ nicht mehr zu bändigen. Eine unsterbliche Seele, warum denn? Ein ganz törichter Wunsch! Es ist viel beruhigender, zu wissen, daß man nach dem Tode zu Schaum auf dem Meere wird, wie es der Kleinen von Natur wegen zukommt. Eine ordentliche Nixe hätte diesen Hohlkopf von Prinzen, der sie gar nicht zu schätzen weiß und vor ihren Augen eine Andere heiratet, an den Marmorstufen seines Schlosses verführt, ihn ins Wasser gezogen und ihn zärtlich ertränkt, statt ihr Schicksal von seiner Dummheit abhängig zu machen, wie sie es tut. Wahrscheinlich hätte er sie mit dem angeborenen Fischschwanz viel leidenschaftlicher geliebt, als mit den schmerzhaften Menschenbeinen …«
    Und mit einer Sachlichkeit, die nur scherzhaft sein konnte, aber mit zusammengezogenen Brauen, dabei nur halb deutlich, mit unwillig sich bewegenden Lippen, sprach er von {501} den ästhetischen Vorzügen der Nixengestalt vor der gegabelt-menschlichen, von dem Linienreiz, mit dem der Frauenleib aus den Hüften in den glattschuppigen, starken und geschmeidigen, zum wohlgesteuerten Dahinschießen geschaffenen Fischschwanz verfloß. Er leugnete hier alles Monströse, das sonst den mythologischen Kombinationen des Menschlichen mit dem Tierischen anhafte, und tat, als gäbe er nicht zu, daß der Begriff mythologische Fiktion hier überhaupt am Platze sei: Das Meerweib habe vollkommene und gewinnendste organische Wirklichkeit, Schönheit und Notwendigkeit, wie man recht gewahr werde angesichts des kümmerlich mitleiderregenden und deklassierten Zustandes der kleinen Seejungfer, nachdem sie sich Beine erkauft, was niemand ihr danke, – es sei ein unzweifelhaftes Stück Natur, das die Natur schuldig geblieben –
wenn
sie es schuldig geblieben sei, was er nicht glaube, ja was er besser wisse usw.
    Ich höre ihn noch so reden oder murmeln, mit einer finsteren Scherzhaftigkeit, die ich scherzhaft beantwortete, einige Ängstlichkeit, wie gewöhnlich, im Herzen nebst stiller Bewunderung für die Laune, die er dem offenbar auf ihm liegenden Druck abzugewinnen wußte. Sie war es, die mich seine Ablehnung der Vorschläge billigen ließ, die Dr. Kürbis damals pflichtgemäß unterbreitete: Er empfahl oder gab zu erwägen die Befragung einer höheren ärztlichen Autorität; aber Adrian wich aus, wollte davon nichts wissen. Er habe, sagte er, erstens volles Vertrauen zu Kürbis und sei außerdem der Überzeugung, daß er mehr oder weniger allein, aus eigener Kraft und Natur mit dem Übel fertig werden müsse. Das entsprach meinem eigenen Gefühl. Eher wäre ich einem Umgebungswechsel, einem Kur-Aufenthalt zugeneigt gewesen, den der Doktor ebenfalls in Vorschlag brachte, ohne, wie sich hätte vorhersagen lassen, seinen Patienten dazu überreden zu können. Viel zu sehr hing dieser an dem entschieden gewählten und gewohn {502} ten Lebensrahmen von Haus und Hof, Kirchturm, Weiher und Hügel, zu sehr an seiner altertümlichen

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