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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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ich unter platonisch verstehe.« –
    So damals Schwerdtfeger. Ich habe in diesen Blättern mehrmals zu seinen Gunsten geredet, und auch heute, da ich dies alles wieder Revue passieren lasse, bin ich milde gegen ihn gestimmt, bestochen gewissermaßen durch sein tragisches Ende. Aber der Leser wird nun gewisse Ausdrücke besser verstehen, die ich auf ihn anwandte, jene »koboldhafte Naivität« oder auch »kindische Dämonie«, die ich als einschlägig in sein Wesen bezeichnete. An Adrians Stelle – aber es ist freilich unsinnig, mich an seine Stelle zu versetzen – hätte ich mehreres nicht geduldet von dem, was Rudolf äußerte. Es war entschieden ein Mißbrauch des Dunkels. Nicht nur, daß er wiederholt zu weit ging in der Offenheit über sein Verhältnis zu Ines, – auch in anderer Richtung ging er zu weit, sträflich und koboldhaft weit – verführt durch das Dunkel, möchte ich sagen, wenn dabei der Begriff der Verführung ganz richtig eingesetzt schiene und man nicht besser von einem kecken Anschlag der Zutraulichkeit auf die Einsamkeit spräche.
    Das ist in der Tat der Name für Rudi Schwerdtfegers Beziehung zu Adrian Leverkühn. Der Anschlag nahm sich die Zeit von Jahren, und ein gewisses schwermutsvolles Gelingen war ihm nicht abzusprechen: auf die Dauer erwies sich die Wehrlosigkeit der Einsamkeit gegen solche Werbung, allerdings zu des Werbers Verderben.

XXXIV
    Nicht nur mit den Messerschmerzen der »kleinen Seejungfer« hatte Leverkühn zur Zeit des tiefsten Standes seiner Gesundheit die eigene Qual verglichen; er hatte im Gespräch noch ein anderes, mit merkwürdig genauer Anschaulichkeit verwendetes Bild dafür, an das ich mich erinnerte, als wenige Monate später, im Frühjahr 1919, der Krankheitsdruck wie durch ein {512} Wunder von ihm abfiel und sein Geist, phönixgleich, sich zu höchster Freiheit und staunenswerter Macht ungehemmter, um nicht zu sagen: hemmungsloser, jedenfalls unaufhaltsamer und reißender, fast atemloser Hervorbringung erhob, – wobei aber gerade jenes Bild mir verriet, daß diese beiden Zustände, der depressive und der gehobene, innerlich nicht scharf gegen einander abgesetzt waren, nicht zusammenhanglos auseinander fielen, sondern daß dieser sich in jenem vorbereitet hatte und gewissermaßen schon in ihm enthalten gewesen war, – wie ja auch umgekehrt die dann ausbrechende Gesundheits- und Schaffensepoche nichts weniger als eine Zeit des Behagens, sondern in ihrer Art ebenfalls eine solche der Heimgesuchtheit, der schmerzhaften Getriebenheit und Bedrängnis war … Ach, ich schreibe schlecht! Die Begierde, alles auf einmal zu sagen, läßt meine Sätze überfluten, treibt sie ab von dem Gedanken, zu dessen Notierung sie ansetzten, und bewirkt, daß sie ihn weiterschweifend aus den Augen zu verlieren scheinen. Ich tue gut, die Kritik dem Leser vom Munde zu nehmen. Es kommt aber dieses Sich überstürzen und Sich verlieren meiner Ideen von der Erregung, in welche die Erinnerung an die Zeit mich versetzt, von der ich handle, die Zeit nach dem Zusammenbruch des deutschen Autoritätsstaates mit ihrer tief greifenden diskursiven Lockerung, die auch mein Denken in ihren Wirbel zog und meine gesetzte Weltanschauung mit Neuigkeiten bestürmte, die zu verarbeiten ihr nicht leicht fiel. Das Gefühl, daß eine Epoche sich endigte, die nicht nur das neunzehnte Jahrhundert umfaßte, sondern zurückreichte bis zum Ausgang des Mittelalters, bis zur Sprengung scholastischer Bindungen, zur Emanzipation des Individuums, der Geburt der Freiheit, eine Epoche, die ich recht eigentlich als die meiner weiteren geistigen Heimat zu betrachten hatte, kurzum, die Epoche des bürgerlichen Humanismus; – das Gefühl, sage ich, daß ihre Stunde geschlagen hatte, eine Mutation des Lebens sich voll {513} ziehen, die Welt in ein neues, noch namenloses Sternenzeichen treten wollte, – dieses zu höchstem Aufhorchen anhaltende Gefühl war zwar nicht erst das Erzeugnis des Kriegsendes, es war schon das seines Ausbruchs, vierzehn Jahre nach der Jahrhundertwende, gewesen und hatte der Erschütterung, der Schicksalsergriffenheit zum Grunde gelegen, die meinesgleichen damals erfahren hatte. Kein Wunder nun, daß die auflösende Niederlage dieses Gefühl auf die Spitze trieb, und kein Wunder zugleich, daß es in einem gestürzten Lande, wie Deutschland, entschiedener die Gemüter beherrschte, als bei den Siegervölkern, deren durchschnittlicher Seelenzustand, eben vermöge des Sieges, weit

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