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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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vorlas. Still hatte ich mich in den Winkel, auf die Eckbank {518} gesetzt und noch eine Zeitlang mit Erstaunen diesem fromm-abseitigen und stümpernd-exzentrischen Vortrag gelauscht.
    Da erfuhr ich denn, daß es öfters so war. In ihrer bäuerlich keuschen Tracht, die von geistlicher Überwachung zeugte, einem Habit aus olivgrünem Wollstoff, dessen hochgeschlossene, mit kleinen, dicht beieinanderstehenden Metallknöpfen besetzte, die jugendliche Büste verflachende Taille in spitzem Zipfel auf den weit angereihten und fußlangen Rock fiel, und zu dem sie als einzigen Schmuck unter der Halsrüsche eine Kette aus alten Silbermünzen trug, saß die braunäugige Maid bei dem Leidenden und las ihm mit litaneiender Schulmädchenbetonung aus Schriften vor, gegen die gewiß der Herr Pfarrer nichts einzuwenden gehabt hätte: der frühchristlichen und mittelalterlichen Visionsliteratur und Jenseitsspekulation. Dann und wann steckte wohl Mutter Schweigestill den Kopf durch die Tür, um nach der Tochter zu sehen, die sie allenfalls im Hause gebraucht hätte, nickte aber den beiden freundlich billigend zu und zog sich wieder zurück. Oder sie setzte sich auch wohl für zehn Minuten neben die Tür auf einen Stuhl, um zuzuhören, worauf sie geräuschlos wieder verschwand. Waren es nicht die Entrückungen der Mechthild, die Clementine rezitierte, so waren es die der Hildegard von Bingen. Waren es diese nicht, so war es eine Verdeutschung der »Historia Ecclesiastica gentis Anglorum« des gelehrten Mönches Beda Venerabilis, eines Werkes, in dem ein gut Teil der keltischen Jenseits- Phantasien, der Visionserlebnisse aus irisch-angelsächsischer christlicher Frühzeit überliefert ist. Dieses ganze ekstatische, das Gericht verkündende, die Furcht vor ewiger Strafe pädagogisch schürende Schrifttum von den vor- und frühchristlichen Eschatologien bildet eine überaus dichte, von wiederkehrenden Motiven erfüllte Überlieferungssphäre, in die Adrian sich einschloß, um sich für ein Werk zu stimmen, das alle ihre Elemente in einem Brennpunkt sammelt, sie in später {519} künstlerischer Synthese drohend zusammenfaßt und nach unerbittlichem Auftrag der Menschheit den Spiegel der Offenbarung vor Augen hält, damit sie darin erblicke, was nahe herangekommen.
    »Das Ende kommt, es kommt das Ende, es ist erwacht über dich; siehe es kommt. Es gehet schon auf und bricht daher über dich, du Einwohner des Landes.« Diese Worte, die Leverkühn seinen testis, den Zeugen, den Erzähler, in einer geisterhaften, auf liegenden Fremd-Harmonien ruhenden, aus reinen Quarten- und verminderten Quintenschritten gefügten Melodik verkünden läßt, und die dann den Text jenes kühn-archaischen Responsoriums abgeben, das sie in zwei vierstimmigen, gegeneinander bewegten Chören unvergeßlich wiederholt, – diese Worte gleich gehören gar nicht der Johannes-Apokalypse an; sie entstammen einer anderen Schicht, der Prophetie des babylonischen Exils, den Gesichten und Lamentationen des Hesekiel, zu denen übrigens das geheimnisvolle Sendschreiben von Patmos, aus der Zeit Neros, im Verhältnis seltsamster Abhängigkeit steht. So ist das »Verschlingen des Buches«, das auch Albrecht Dürer kühnlich zum Gegenstand eines seiner Holzschnitte gemacht hat, fast wortgetreu von Hesekiel entliehen, bis auf die Einzelheit, daß es (oder der »Brief«, darinnen Klage, Ach und Wehe geschrieben steht) im Munde des gehorsam Essenden so süß als Honig schmeckt. So auch ist die große Erzhure, das Weib auf dem Tiere, bei deren Schilderung der Nürnberger sich heitererweise geholfen hat, indem er die mitgebrachte Portraitstudie einer venezianischen Kurtisane dazu benutzte, bei Ezechiel sehr weitgehend und in ganz verwandten Wendungen vorgezeichnet. Tatsächlich gibt es eine apokalyptische Kultur, die den Ekstatikern bis zu einem gewissen Grade feststehende Gesichte und Erlebnisse überliefert, – so sehr es als psychologische Merkwürdigkeit anmuten mag, daß einer nachfiebert, was andere vorgefiebert, und daß man un {520} selbständig, anleiheweise und nach der Schablone verzückt ist. Dennoch ist dies der Sachverhalt, und ich weise auf ihn hin im Zusammenhang mit der Feststellung, daß Leverkühn bei seinem inkommensurablen Chorwerk sich textlich keineswegs an die Johannes-Apokalypse allein gehalten, sondern sozusagen jenes ganze seherische Herkommen, von dem ich sprach, in sein Werk hineingenommen hat, so daß es auf die Creation einer neuen und eigenen

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