Doktor Faustus
es am Kommen zu hindern.« Was sie aber, sozusagen sagten, war: »Das kommt, das kommt, und wenn es da ist, wird es uns auf der Höhe des Augenblicks finden. Es ist interessant, es ist sogar gut – einfach dadurch, daß es das Kommende ist, und es zu erkennen ist sowohl der Leistung wie des Vergnügens genug. Es ist nicht {539} unsere Sache, auch noch etwas dagegen zu tun.« – So diese Gelehrten, unter der Hand. Es war aber ein Schwindel mit der Freude an der Erkenntnis; sie sympathisierten mit dem, was sie erkannten und was sie, ohne diese Sympathie, wohl gar nicht erkannt hätten, das war die Sache, und daher, vor Ärger und Aufregung, mein Gewichtsverlust.
Jedoch ist alles, was ich da sage, nicht richtig. Durch meine pflichtschuldigen Besuche im Kridwiß'schen Kreise allein und die Zumutungen, denen ich mich willentlich dort aussetzte, hätte ich gar keine Abmagerung erfahren, weder um 14 Pfund noch auch nur um die Hälfte. Nie hätte ich mir jene Redereien am runden Tisch zu Herzen genommen, wie ich es tat, hätten sie nicht den kaltschnäuzig-intellektuellen Kommentar gebildet zu einem heißen Erlebnis der Kunst und der Freundschaft, – ich meine: zu dem Erlebnis der Entstehung eines befreundeten Kunstwerks, – befreundet mir durch seinen Schöpfer, nicht durch sich selbst, das darf ich nicht sagen, dazu eignete ihm zuviel für meinen Sinn Befremdendes und Ängstigendes – eines Werkes, das, einsam dort in dem allzu heimatlichen ländlichen Winkel fieberhaft schnell sich aufbauend, mit dem bei Kridwiß Gehörten in eigentümlicher Korrespondenz, im Verhältnis geistiger Entsprechung stand.
Wurde nicht dort am runden Tisch eine Kritik der Tradition auf die Tagesordnung gesetzt, die das Ergebnis der Zerstörung von Lebenswerten war, welche lange für unverbrüchlich gegolten, und war nicht ausdrücklich die Bemerkung gefallen – ich weiß nicht, von welcher Seite, Breisachers? Unruhes? Holzschuhers? – daß diese Kritik sich notwendig gegen herkömmliche Kunstformen und -gattungen, zum Beispiel gegen das ästhetische Theater kehren müsse, das im bürgerlichen Lebenskreis gestanden habe und eine Angelegenheit der Bildung gewesen sei? Nun denn, vor meinen Augen vollzog sich die Ablösung der dramatischen Form durch eine epische, wandelte {540} das Musikdrama sich zum Oratorium, das Operndrama zur Opernkantate – und zwar in einem Geist, einer zum Grunde liegenden Gesinnung, die sehr genau mit den absprechenden Urteilen meiner Interlokutoren in der Martiusstraße über die Lage des Individuums und alles Individualismus in der Welt übereinstimmte: einer Gesinnung, will ich sagen, die, am Psychologischen nicht länger interessiert, auf das Objektive, auf eine Sprache drang, welche das Absolute, Bindende und Verpflichtende ausdrückte und sich folglich mit Vorliebe die fromme Fessel prä-klassisch strenger Formen auferlegte. Wie oft, bei der gespannten Beobachtung von Adrians Tun, mußte ich der frühen Einprägung gedenken, die wir Knaben von jenem redseligen Stotterer, seinem Lehrer, empfangen hatten: der Opponierung von »harmonischer Subjektivität« und »polyphonischer Sachlichkeit«. Der Weg um die Kugel, von dem in den quälend gescheiten Unterhaltungen bei Kridwiß die Rede gewesen war, dieser Weg, in dem Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft eins wurden, – hier sah ich ihn verwirklicht durch ein neuigkeitsvolles Zurückgehen über Bachs und Händels bereits harmonische Kunst hinaus in die tiefere Vergangenheit echter Mehrstimmigkeit.
Ich bewahre einen Brief, den Adrian mir zu jener Zeit von Pfeiffering nach Freising schrieb – aus der Arbeit heraus an dem Lobgesang der »großen Schar, welche niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhl stehend und vor dem Lamm« (siehe Dürers siebentes Blatt) – einen Brief, in dem er nach meinem Besuch verlangte, und den er mit »Perotinus Magnus« unterzeichnet hatte. Ein vielsagender Scherz und eine spielerische Identifikation voller Selbstverspottung; denn dieser Perotinus war im 12. Jahrhundert der Leiter der Kirchenmusik von Notre Dame und ein Sangesmeister, dessen kompositorische Anweisungen zur Höherentwicklung der jungen Kunst der Polyphonie führten. Mich erinnerte {541} diese jokose Unterschrift sehr stark an eine ebensolche Richard Wagners, der zur Zeit des »Parsifal« seinem Namen unter einem Brief den Titel »Ober-Kirchenrat« hinzufügte. Für den
Weitere Kostenlose Bücher