Doktor Faustus
erschlossene Vermächtnis meines Freundes, und mir ist, als stellte ich meine Bemerkungen am besten auch ferner unter den Gesichtspunkt eines Vorwurfs, dessen Erklärlichkeit ich zugebe, da ich mir doch eher die Zunge abbisse, bevor ich seine Berechtigung anerkennte: des Vorwurfs des Barbarismus. Man hat ihn erhoben gegen die Vereinigung des Ältesten mit dem Neuesten, die das Werk charakterisiert, und die doch mitnichten eine Tat der Willkür ist, sondern in der Natur der Dinge liegt: sie beruht, so möchte ich sagen, auf der Krümmung der Welt, die im Spätesten das Früheste wiederkehren läßt. So kannte die alte Tonkunst den Rhythmus nicht, wie die Musik ihn später verstand. Der Gesang war nach den Gesetzen der {546} Sprache metrisiert, er verlief nicht in taktmäßig und periodisch gegliedertem Zeitmaß, sondern gehorchte eher dem Geiste freier Rezitation. Und wie steht es um den Rhythmus unserer, der jüngsten Musik? Ist nicht auch er dem Sprachakzent angenähert? Durch wechselvolle Überbeweglichkeit aufgelöst? Schon bei Beethoven gibt es Sätze von einer rhythmischen Freiheit, die Kommendes ahnen läßt. Bei Leverkühn fehlt nichts, als daß die Takteinteilung selbst aufgegeben wäre. Sie ist es nicht, ironisch-konservativer Weise. Aber ohne Rücksicht auf Symmetrie und rein dem Sprachakzent angepaßt, wechselt tatsächlich der Rhythmus von Takt zu Takt. Ich sprach von Einprägungen. Es gibt solche, die, dem Verstand unbeachtlich, wie sie scheinen mögen, in der Seele fortwirken und ihren unterschwellig bestimmenden Einfluß üben. Nun, auch die Figur und das herrisch-ahnungslose musikalische Betreiben jenes Kauzes über See, von dem ein anderer Kauz, Adrians Lehrer, uns in unserer Jugend erzählt, und über den mein Genosse sich auf dem Heimweg mit so hochmütigem Beifall geäußert hatte, – auch die Geschichte dieses Johann Conrad Beißel war eine solche Einprägung. Warum sollte ich mich stellen, als hätte ich nicht schon längst, nicht wiederholt schon an den strikten Schulmeister und Neubeginner der Sangeskunst zu Ephrata überm Meere gedacht? Eine Welt liegt zwischen seiner naiv beherzten Pädagogik und dem bis an die Grenzen musikalischer Gelehrsamkeit, Technik, Geistigkeit vorgetriebenen Werke Leverkühns. Und doch geht für mich, den Befreundet-Wissenden, der Geist des Erfinders der »Herren- und Dienertöne« und der musikalischen Hymnen-Rezitation gespenstisch darin um.
Trage ich mit dieser intimen Bemerkung zur Erklärung des mir so wehetuenden Vorwurfs bei, den ich zu erklären suche, ohne ihm das geringste Zugeständnis zu machen: des Vorwurfs des Barbarismus? Er hat wohl eher zu tun mit einem gewissen {547} Einschlag von eisig anrührender Massen-Modernität in diesem Werk religiöser Vision, das das Theologische fast nur als Richten und Schrecken kennt, – einem Einschlag von stream-line, um das insultierende Wort zu wagen. Man nehme den testis, den Zeugen und Erzähler des grausen Geschehens, »Ich, Johannes« also, den Beschreiber der Tiere des Abgrunds mit Löwen-, Kalbs-, Menschen- und Adlersköpfen, – diese Partie, die traditionsgemäß einem Tenor, diesmal aber einem solchen von fast kastratenhafter Höhe zugeschrieben ist, dessen kaltes Krähen, sachlich, reporterhaft, in schauerlichem Gegensatz zu dem Inhalt seiner katastrophalen Mitteilungen steht. Als im Jahre 1926, bei dem Fest der »Internationalen Gesellschaft für neue Musik« in Frankfurt am Main die »Apocalipsis« ihre erste und vorläufig letzte Aufführung (unter Klemperer) erlebte, wurde der äußerst schwierige Part mit Meisterschaft von einem Tenoristen eunuchalen Typs namens Erbe gesungen, dessen durchdringende Ansagen sich tatsächlich wie »neueste Berichte vom Weltuntergang« ausnahmen. Das war durchaus im Geiste des Werkes, der Sänger hatte diesen mit großer Intelligenz erfaßt. – Oder man nehme, als ein anderes Beispiel technischen Komforts im Entsetzen, die Lautsprecher-Wirkungen (in einem Oratorium!), die der Komponist an verschiedenen Stellen vorgeschrieben hat, und die eine sonst nie bewerkstelligte räumlich-akustische Abstufung erzielen: dergestalt, daß durch den Verstärker einiges in den Vordergrund gebracht wird, anderes als Fern-Chor, Fern-Orchester zurücktritt. Man halte daneben noch einmal die allerdings sehr gelegentlichen, zu rein infernalischen Zwecken benutzten Jazz-Klänge, und man wird mir die schneidende Bezeichnung »stream-lined« zugute halten für ein Werk, das nach seiner
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