Doktor Faustus
Elend war es, wie sie sich entwürdigte. Wahrscheinlich nahm sie Überdosen, die ihr nicht lebhaftes Wohlsein schufen, sondern sie in einen Zustand versetzten, worin sie sich nicht sehen lassen konnte. Jene Zwitscher spielte genialer unter der Wirkung des Mittels, und Natalia Knöterich erhöhte damit ihren gesellschaftlichen Charme. Aber der armen Ines geschah es wiederholt, daß sie in halber Bewußtlosigkeit zu Tische kam und sich mit verglasten Augen und nickendem Kopf zu ihrer ältesten Tochter und ihrem kleinlich-peinlich berührten Gatten an dem immer noch wohlgepflegten, von Kristall funkelnden Eßtisch niederließ. Ich will dazu eines gestehen: Ines be {562} ging ein paar Jahre später ein Kapitalverbrechen, das allgemeines Entsetzen erregte und ihrer bürgerlichen Existenz ein Ende machte. Aber so sehr auch mir vor der Untat schauderte, so war ich doch, aus alter Freundschaft, fast stolz, nein entschieden stolz darauf, daß sie in ihrer Gesunkenheit die Kraft und wilde Energie zu der Handlung gefunden hatte.
XXXVI
O Deutschland, du gehst zu Grunde, und ich gedenke deiner Hoffnungen! Die Hoffnungen meine ich, die du erregtest (vielleicht ohne sie zu teilen); die nach deinem vorigen, vergleichsweise sanften Zusammenbruch, der Abdankung des Kaiserreichs, die Welt in dich setzen wollte, und die du trotz ausgelassenem Benehmen, trotz einer völlig verrückten, wild verzweifelten und wild demonstrativen »Aufblähung« deines Elends, jener betrunken zum Himmel kletternden Währungsinflation, einige Jahre lang bis zu einem gewissen Grade zu rechtfertigen schienest.
Es ist wahr, der phantastische, weltverhöhnende und als Weltschrecknis gemeinte Unfug von damals hatte schon viel von der monströsen Unglaubwürdigkeit, der Exzentrizität, dem nie für möglich Gehaltenen, dem bösen Sansculottismus unserer Aufführung seit 1933 und gar seit 1939. Aber der Milliarden-Rausch, dieser Bombast der Misere, nahm ja eines Tages ein Ende, in das verfratzte Antlitz unseres Wirtschaftslebens kehrte der Ausdruck der Vernunft zurück, und eine Epoche seelischer Erholung, des gesellschaftlichen Fortschritts in Frieden und Freiheit, der mündigen und zukunftsgewillten kulturellen Bemühtheit, der gutwilligen Angleichung unseres Fühlens und Denkens ans Welt-Normale schien uns Deutschen zu dämmern. Unzweifelhaft, dies war, trotz aller eingeborenen Schwäche und Antipathie gegen sich selbst, der Sinn, {563} die Hoffnung der deutschen Republik, – ich meine wiederum: die Hoffnung, die sie den Fremden erweckte. Sie war ein Versuch, ein nicht ganz und gar aussichtsloser Versuch (der zweite nach dem fehlgeschlagenen Bismarcks und seines Einigungskunststücks), zur Normalisierung Deutschlands im Sinne seiner Europäisierung oder auch »Demokratisierung«, seiner geistigen Einbeziehung in das gesellschaftliche Leben der Völker. Wer will leugnen, daß viel guter Glaube an die Möglichkeit dieses Prozesses in den anderen Ländern lebendig war, – und wer bestreiten, daß eine hoffnungsvolle Bewegung in dieser Richtung unter uns, in Deutschland, überall im Lande, mit Ausnahmen bäurischer Verstocktheit – tatsächlich festzustellen war?
Ich spreche von den zwanziger Jahren des Jahrhunderts, besonders natürlich von ihrer zweiten Hälfte, die in allem Ernst eine Verschiebung des kulturellen Brennpunktes von Frankreich nach Deutschland brachte, und für die es denn doch in hohem Grade kennzeichnend war, daß in ihr, wie erwähnt, die Erstaufführung, genauer: die erste vollständige Aufführung von Adrian Leverkühns apokalyptischem Oratorium sich ereignete. Selbstverständlich geschah das, obgleich der Schauplatz Frankfurt, einer der gutwillig-freimütigsten Stadtcharaktere des Reiches war, nicht ohne zornigen Widerspruch, nicht ohne daß der Vorwurf der Kunstverhöhnung, des Nihilismus, des musikalischen Verbrechertums, oder, um den geläufigsten Schimpfruf von damals einzusetzen: der Vorwurf des »Kultur-Bolschewismus« mit Erbitterung laut geworden wäre. Aber das Werk und das Wagnis seiner Darbietung fanden intelligente, des Wortes mächtige Verteidiger, und dieser gute Mut, der, welt- und freiheitsfreundlich, um das Jahr 1927 auf seine Höhe kam, dies Widerspiel zur nationalistisch-wagnerisch-romantischen Reaktion, wie sie namentlich in München zu Hause war, bildete durchaus auch schon ein Element unseres öffent {564} lichen Lebens in der ersten Hälfte des Jahrzehnts, – wobei ich an kulturelle Vorkommnisse denke wie
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