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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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selbst würden von seinem Verhältnis zu ihr erfahren, wenn sie ihm nicht neuerdings zu Willen war. Nach allem, was wir später in Erfahrung gebracht, müssen verzweifelte Szenen sich zwischen dem Mörder und seinem Opfer abgespielt haben. Vergebens flehte das Mädchen – zuletzt auf den Knien – ihn an, sie zu schonen, sie freizugeben, {555} sie nicht zu nötigen, ihren Lebensfrieden mit dem Verrat an dem Manne zu bezahlen, der sie liebte, und dessen Liebe sie erwiderte. Eben dies Bekenntnis reizte den Unhold zur Grausamkeit. Er machte gar kein Hehl daraus, daß sie, indem sie sich ihm jetzt überließ, nur für den Augenblick, nur fürs Nächste Ruhe gewann, die Reise nach Straßburg, die Verlobung erkaufte. Freigeben würde er sie nie, sie immer wieder, nach seinem Belieben, anhalten, sich ihm für sein Schweigen erkenntlich zu erweisen, das er brechen würde, sobald sie sich der Erkenntlichkeit weigerte. Sie würde im Ehebruch zu leben haben, – das würde die gerechte Strafe für ihr Philisterium, für das sein, was der Mensch ihr feiges Unterkriechen im Bürgerlichen nannte. Ging es nicht weiter, kam ihr, auch ohne seine Hilfe, ihr Männchen auf die Sprünge, so blieb ihr immer die alles ordnende Substanz, die sie von jeher in jenem dekorativen Gegenstand, dem Buch mit dem Totenkopf, aufbewahrte. Nicht umsonst sollte sie sich dem Leben durch den stolzen Besitz des hippokratischen Heilmittels überlegen gefühlt, ihm makabren Spott geboten haben, – einen Spott, der ihr besser zu Gesicht stand, als der bourgeoise Friedensschluß mit dem Leben, zu dem sie sich bereitfinden wollte.
    Nach meiner Meinung hatte der Wicht es, außer auf erzwungene Lust, geradezu auf ihren Tod abgesehen. Seine infame Eitelkeit verlangte nach einer Frauenleiche auf seinem Wege; es gelüstete ihn, daß ein Menschenkind, wenn nicht gerade für ihn, so doch von wegen seiner, sterbe und verderbe. Ach, daß Clarissa ihm den Gefallen tun mußte! Sie mußte es wohl, wie alles ging und stand, ich sehe es ein, wir alle mußten es einsehen. Noch einmal willfahrte sie ihm, um vorläufig Ruhe zu gewinnen, und war damit mehr als je in seiner Hand. Sie rechnete wohl, wenn sie erst einmal von der Familie angenommen, einmal mit Henri vermählt sei, werde sie (noch dazu auf fremdem Staatsgebiet geborgen) schon Mittel und Wege fin {556} den, dem Erpresser die Stirn zu bieten. Es kam nicht dazu. Offenbar hatte ihr Quäler beschlossen, es zu der Heirat nicht erst kommen zu lassen. Ein anonymer Brief, von Clarissas Liebhaber in der dritten Person handelnd, tat sein Werk in der Straßburger Familie, bei Henri selbst. Er sandte ihr den Text – zur Rechtfertigung, wenn solche möglich war. Sein Begleitbrief ließ nicht eben eine unerschütterlichste Glaubensstärke der Liebe erkennen, die er für sie trug.
    Clarissa empfing die eingeschriebene Sendung in Pfeiffering, wo sie nach Schluß der Pforzheimer Theater-Saison für ein paar Wochen im Häuschen ihrer Mutter, hinter den Kastanien, zu Gast war. Es war früher Nachmittag. Die Senatorin sah ihr Kind im Geschwindschritt von einem Spaziergang zurückkehren, den sie nach Tische auf eigene Hand unternommen. Auf dem kleinen Vorplatz des Hauses eilte Clarissa mit einem flüchtig-wirren und blinden Lächeln an ihr vorüber in ihr Zimmer, dessen Schlüssel sich hinter ihr kurz und energisch im Schlosse drehte. In ihrem eigenen Schlafzimmer, nebenan, hörte die alte Dame die Tochter nach einer Weile am Waschtisch mit Wasser gurgeln, – wir wissen heute, daß dies zur Kühlung der Verätzungen geschah, die die furchtbare Säure ihr im Schlunde verursacht. Dann trat Stille ein, – die unheimlich andauerte, als nach etwa zwanzig Minuten die Senatorin bei Clarissa klopfte und sie bei Namen rief. Wie dringlich sie dies wiederholte, so blieb die Antwort aus. Die Geängstigte, mit ihrem über der Stirn nicht mehr recht zu ordnenden Haar und ihrer Zahnlücke, lief hinüber zum Hauptgebäude und unterrichtete mit gepreßten Worten Frau Schweigestill. Die Vielerfahrene folgte ihr mit einem Knecht, der nach wiederholtem Rufen und Klopfen der beiden Frauen das Türschloß sprengte. Clarissa lag mit offenen Augen auf dem Kanapee am Fußende des Bettes, einem Möbel der siebziger oder achtziger Jahre, mit Rücken- und Seitenlehne, das ich aus der Rambergstraße kannte, und auf das {557} sie sich eilig begeben hatte, als beim Gurgeln der Tod sie überkam.
    »Da wird wohl nichts mehr zu machen sein, liebe Frau

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