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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Ausgang in immer entlegenere Regionen fortgelockt – alles geht anders zu, als man erwartet. »Ich habe«, sagte Adrian zu mir, »keine Sonate schreiben wollen, sondern einen Roman.«
    Diese Tendenz zur musikalischen »Prosa« kommt auf ihre Höhe in dem Streichquartett, Leverkühns esoterischstem Werk vielleicht, das dem Ensemblestück auf dem Fuße folgte. Wenn sonst Kammermusik den Tummelplatz thematisch-motivischer Arbeit abgibt, so ist diese hier geradezu provokatorisch vermieden. Es gibt überhaupt keine motivischen Zusammenhänge, Entwicklungen, Variationen und keine Wiederholungen; ununterbrochen, in scheinbar völlig ungebundener Weise, folgt Neues, zusammengehalten durch Ähnlichkeit des Tones oder des Klanges oder, fast mehr noch, durch Kontraste. Von überlieferten Formen nicht eine Spur. Es ist, als ob der Meister in diesem scheinbar anarchischen Stück tief Atem holte zur Faust-Kantate, dem Gebundensten seiner Werke. In dem Quartett hat er sich nur seinem Ohr überlassen, der inneren Logik des Einfalls. Dabei ist die Polyphonie aufs äußerste {662} gesteigert und jede Stimme in jedem Augenblick ganz selbständig. Artikuliert wird das Ganze durch sehr deutlich gegen einander abgesetzte Tempi, obgleich die Teile ohne Unterbrechung durchzuspielen sind. Der erste, Moderato überschrieben, gleicht einem tief nachdenklichen, geistig angestrengten Gespräch und mit einander Zu-Rate-gehen der vier Instrumente, einem Austausch ernsten und stillen Ganges, fast ohne dynamische Abwechslung. Es folgt ein wie im Delirium geflüsterter Presto-Teil, von allen vier Instrumenten mit Dämpfern gespielt, ein langsamer Satz sodann, kürzer gehalten, in welchem durchaus die Bratsche die Hauptstimme trägt, von Einwürfen der anderen Instrumente begleitet, so daß man an eine Gesangsszene erinnert ist. In dem »Allegro con fuoco« endlich lebt sich die Polyphonie in langen Linien aus. Ich kenne nichts Erregenderes, als den Schluß, wo es ist, wie wenn von allen vier Seiten Flammen züngelten: eine Kombination von Läufen und Trillern, die den Eindruck erweckt, als höre man ein ganzes Orchester. Wirklich ist durch die Ausnutzung der weiten Lagen und der vorzüglichsten Klangmöglichkeiten jedes Instruments eine Sonorität erreicht, welche die üblichen Grenzen der Kammermusik sprengt, und ich zweifle nicht, daß die Kritik dem Quartett überhaupt entgegenhalten wird, es sei ein verkapptes Orchesterwerk. Sie wird unrecht haben. Das Studium der Partitur belehrt darüber, daß die subtilsten Erfahrungen des Streichquartett-Satzes verwertet sind. Freilich hat Adrian mir wiederholt die Ansicht geäußert, daß die alten Grenzen von Kammermusik und Orchesterstil nicht zu halten seien, und daß seit der Emanzipation der Farbe beides in einander übergehe. Die Neigung zum Zwiestämmigen, zur Vermischung und Vertauschung, wie sie sich schon in der Behandlung des Vokalen und Instrumentalen in der »Apokalypse« anzeigt, war allerdings bei ihm im Wachsen. »Ich habe«, sagte er wohl, »im Philosophie {663} kolleg gelernt, daß Grenzen zu setzen schon sie überschreiten heißt. Danach hab ich's immer gehalten.« Was er meinte, war die Hegelsche Kant-Kritik, und der Ausspruch zeigt, wie tief sein Schaffen vom Geistigen her – und von frühen Einprägungen – bestimmt war.
    Und vollends dann das Trio für Geige, Viola und Violoncell, das, kaum spielbar, in der Tat nur von drei Virtuosen allenfalls technisch zu bezwingen, ebenso durch seinen konstruktiven Furor, die Hirnleistung, die es darstellt, wie durch die ungeahnten Klangmischungen in Erstaunen setzt, die ein das Unerhörte begehrendes Ohr, eine kombinatorische Phantasie sondergleichen den drei Instrumenten abgewonnen hat. »Unmöglich, aber dankbar«, so kennzeichnete Adrian in guter Laune das Stück, dessen Niederschrift er schon während der Entstehung der Ensemblemusik begonnen, und das er im Sinn getragen und ausgebildet hatte, beladen mit der Arbeit an dem Quartett, von dem man hätte denken sollen, daß es allein die organisierenden Kräfte eines Menschen auf lange und aufs letzte hätte verzehren müssen. Es war ein exuberantes Ineinander von Eingebungen, Forderungen, Erfüllungen und Abberufungen zur Bewältigung neuer Aufträge, ein Tumult von Problemen, die zusammen mit ihren Lösungen hereinbrachen, – »eine Nacht«, sagte Adrian, »in der es vor Blitzen nicht dunkel wird«.
    »Eine etwas unmilde und zappelige Art von Beleuchtung«, fügte er wohl hinzu. »Was

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