Doktor Faustus
Die öffentlichen Blätter, schon halb entfesselt, registrieren die Wahrheit, das Gerücht, genährt von Radio-Meldungen des Feindes, von den Erzählungen Flüchtiger, kennt keine Zensur und trägt die Einzelfälle der sich rapide ausbreitenden Katastrophe in den noch nicht von ihr verschlungenen, noch nicht befreiten Gegenden des Reiches umher bis in meine Klause. Kein Halten mehr: alles gibt sich gefangen und läuft auseinander. Unsere zerschmetterten und zermürbten Städte fallen wie reife Pflaumen. Darmstadt, Würzburg, Frankfurt gingen dahin, Mannheim und Kassel, Münster gar, Leipzig bereits gehorchen den Fremden. Eines Tages standen die Engländer in Bremen, die Amerikaner im oberfränkischen Hof. Nürnberg ergab sich, die Stadt der unkluge Herzen hoch erhebenden Staatsfeste. Unter den Großen des Regimes, die sich in Macht, Reichtum und Unrecht gewälzt, wütet richtend der Selbstmord.
Russische Corps, durch die Einnahme von Königsberg und Wien zur Forcierung der Oder frei geworden, rückten, eine Millionen-Armee, gegen die in Schutt liegende, von allen {696} Staatsämtern schon geräumte Reichshauptstadt, vollendeten mit ihrer schweren Artillerie das längst aus der Luft Vollstreckte und nähern sich gegenwärtig dem Stadtzentrum. Der grausige Mann, der voriges Jahr dem Anschlage verzweifelter, auf Rettung der letzten Substanz, der Zukunft bedachter Patrioten mit dem Leben, allerdings einem nur noch irre flackernden und flatternden, entrann, befahl seinen Soldaten, den Angriff auf Berlin in einem Meer von Blut zu ertränken und jeden Offizier zu erschießen, der von Übergabe spreche. Das ist vielfach befolgt worden. Gleichzeitig durchirren seltsame, ebenfalls nicht mehr ganz geistesklare Radio-Sendungen deutscher Zunge den Äther: solche sowohl, die die Bevölkerung und selbst die Schergen der Geheimen Staatspolizei, als vielverleumdet, dem Wohlwollen der Sieger empfehlen, wie auch solche, die von einer auf den Namen »Werwolf« getauften Freiheitsbewegung zu melden wissen: einem Verbande rasender Knaben, die, in Wäldern versteckt und aus ihnen nächtlich hervorbrechend, schon durch manchen wackeren Mord an den Eindringlingen sich um das Vaterland verdient gemacht hätten. O jammervolle Groteske! So wird bis zuletzt das rohe Märchen, der grimme Sagenniederschlag im Gemüt des Volkes, nicht ohne vertrauten Widerhall, angerufen.
Unterdessen läßt ein transatlantischer General die Bevölkerung von Weimar vor den Krematorien des dortigen Konzentrationslagers vorbeidefilieren und erklärt sie – soll man sagen: mit Unrecht? – erklärt diese Bürger, die in scheinbaren Ehren ihren Geschäften nachgingen und nichts zu wissen versuchten, obgleich der Wind ihnen den Stank verbrannten Menschenfleisches von dorther in die Nasen blies, – erklärt sie für mitschuldig an den nun bloßgelegten Greueln, auf die er sie zwingt, die Augen zu richten. Mögen sie schauen – ich schaue mit ihnen, ich lasse mich schieben im Geiste von ihren stumpfen oder auch schaudernden Reihen. Der dickwandige Folter {697} keller, zu dem eine nichtswürdige, von Anbeginn dem Nichts verschworene Herrschaft Deutschland gemacht hatte, ist aufgebrochen, und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen Bilder nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: was sie gesehen übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könne. Ich sage: unsere Schmach. Denn ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, daß alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist? Ist es krankhafte Zerknirschung, die Frage sich vorzulegen, wie überhaupt noch in Zukunft »Deutschland« in irgend einer seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzutun?
Man nenne es finstere Möglichkeiten der Menschennatur überhaupt, die hier zu Tage kommen, – deutsche Menschen, Zehntausende, Hunderttausende, sind es nun einmal, die verübt haben, wovor die Menschheit schaudert, und was nur immer auf deutsch gelebt hat, steht da als ein Abscheu und als Beispiel des Bösen. Wie wird es sein, einem Volke anzugehören, dessen Geschichte dies gräßliche Mißlingen in sich trug, einem an sich selber irre gewordenen, seelisch abgebrannten Volk, das eingestandenermaßen daran
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