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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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verzweifelt, sich selbst zu regieren, und es noch für das Beste hält, zur Kolonie fremder Mächte zu werden; einem Volk, das mit sich selbst eingeschlossen wird leben müssen, wie die Juden des Ghetto, weil ein ringsum furchtbar aufgelaufener Haß ihm nicht erlauben wird, aus seinen Grenzen hervorzukommen, – ein Volk, das sich nicht sehen lassen kann?
    Fluch, Fluch den Verderbern, die eine ursprünglich biedere, rechtlich gesinnte, nur allzu gelehrige, nur allzu gern aus der {698} Theorie lebende Menschenart in die Schule des Bösen nahmen! Wie wohl tut die Verwünschung, wie wohl täte sie, wenn sie aus freiem und unbedingtem Busen emporstiege! Eine Vaterlandsliebe aber, die kühnlich behaupten wollte, daß der Blutstaat, dessen schnaubende Agonie wir nun erleben; der unermeßliche Verbrechen, lutherisch zu reden, »auf seinen Hals nahm«, bei dessen brüllender Ausrufung, bei dessen das Menschenrecht durchstreichenden Verkündigungen ein Taumel von Überglück die Menge hinriß, und unter dessen grellen Bannern unsere Jugend mit blitzenden Augen, in hellem Stolz und im Glauben fest, marschierte, – daß er etwas unserer Volksnatur durchaus Fremdes, Aufgezwungenes und in ihr Wurzelloses gewesen wäre, – eine solche Vaterlandsliebe schiene mir hochherziger, als sie mich gewissenhaft dünkte. War diese Herrschaft nicht nach Worten und Taten nur die verzerrte, verpöbelte, verscheußlichte Wahrwerdung einer Gesinnung und Weltbeurteilung, der man charakterliche Echtheit zuerkennen muß, und die der christlich-humane Mensch nicht ohne Scheu in den Zügen unserer Großen, der an Figur gewaltigsten Verkörperungen des Deutschtums ausgeprägt findet? Ich frage – und frage ich zu viel? Ach, es ist wohl mehr, als eine Frage, daß dieses geschlagene Volk jetzt eben darum irren Blicks vor dem Nichts steht, weil sein letzter und äußerster Versuch, die selbsteigene politische Form zu finden, in so gräßlichem Mißlingen untergeht.
    ***
    Wie eigentümlich doch schließen sich nun die Zeiten – schließt sich diejenige, in der ich schreibe, mit der zusammen, die den Raum dieser Biographie bildet! Denn die letzten Jahre des geistigen Lebens meines Helden, diese beiden Jahre 29 und 30, nach dem Scheitern seines Ehe-Planes, dem Verlust des Freundes, der Hinwegnahme des wunderbaren Kindes, das zu ihm gekommen war, sie gehörten ja schon dem Heraufsteigen und {699} Umsichgreifen dessen an, was sich dann des Landes bemächtigte und nun in Blut und Flammen untergeht.
    Es waren für Adrian Leverkühn Jahre einer ungeheueren und hocherregten, man ist versucht, zu sagen: monströsen, den teilnehmenden Anwohner selbst in einer Art von Taumel dahinreißenden schöpferischen Aktivität, und unmöglich konnte man sich des Eindrucks erwehren, als bedeute sie Sold und Ausgleich für den Entzug an Lebensglück und Liebeserlaubnis, dem er unterworfen gewesen war. Ich spreche von Jahren, aber mit Unrecht: nur ein Teil davon genügte, nur die zweite Hälfte des einen und einige Monate des anderen, um das Werk, sein letztes und etwas geschichtlich Letztes und Äußerstes in der Tat, zu zeitigen: die Symphonische Kantate »Dr. Fausti Weheklag«, deren Plan, wie ich schon verriet, vor den Aufenthalt Nepomuk Schneideweins in Pfeiffering zurückgeht, und der ich nun mein armes Wort zuwenden will.
    Ich darf zuvor nicht unterlassen, auf die persönliche Kondition ihres Schöpfers, eines damals Vierundvierzigjährigen, auf seine Erscheinung und Lebensweise, wie sie sich meiner immer gespannten Beobachtung darstellten, ein Licht zu werfen. Was mir dabei zuerst in die Feder kommt, ist die Tatsache, auf die ich in diesen Blättern schon frühzeitig vorbereitete, daß sein Gesicht, welches, solange er es glatt rasierte, die Ähnlichkeit mit dem seiner Mutter so offen zur Schau getragen hatte, seit kurzem durch einen dunklen, mit Grau vermischten Bartwuchs verändert war, eine Art von Knebelbart, in den ein schmales Oberlippenbärtchen hinabhing, und der, wenn er auch die Wangen nicht frei ließ, doch weit dichter am Kinn, hier aber wieder stärker zu seiten desselben, als in der Mitte, also nicht etwa ein Spitzbart war. Die Verfremdung, die diese partielle Bedeckung der Züge bewirkte, nahm man in den Kauf, weil der Bart es war, der, wohl zusammen mit einer wachsenden Neigung, den Kopf zur Schulter geneigt zu tragen, dem Antlitz {700} etwas Vergeistigt-Leidendes, ja Christushaftes verlieh. Diesen Ausdruck zu lieben, konnte ich nicht umhin und

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