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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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übriggeblieben, die schwarzen und blauen aber entschwunden waren … Er sah endlich mich, wenn ich zum Wochenende mich bei ihm einfand, – und das war alles. Zudem waren es nur kurze Stunden, in denen er Gesellschaft überhaupt brauchen konnte, denn ohne den Sonntag auszulassen (er hatte ihn nie »geheiligt«), arbeitete er acht Stunden am Tage, und da in diese noch eine nachmittägliche Ruhezeit im Dunkeln eingeschaltet war, so blieb ich bei meinen Besuchen in Pfeiffering viel mir selbst überlassen. Als ob ich's bereut hätte! Ich war ihm nahe und nahe der Entstehung des in Schmerzen und Schauern geliebten Werkes, das nun durch anderthalb Jahrzehnte als ein toter, verpönter und verheimlichter Hochwert dagelegen hat, und dessen Aufleben durch die vernichtende Befreiung, die wir erdulden, herbeigeführt werden mag. Es gab Jahre, in denen wir Kinder des Kerkers uns ein Jubellied, den »Fidelio«, die Neunte Symphonie als Morgenfeier der Befreiung Deutschlands – seiner Selbstbefreiung – erträumten. Nun kann nur dieses uns frommen, und dieses nur wird uns aus der Seele gesungen sein: die Klage des Höllensohns, die furchtbarste Menschen- und Gottesklage, die, ausgehend vom Subjekt, aber stets weiter sich ausbreitend und gleichsam den Kosmos ergreifend, auf Erden je angestimmt worden ist.
    {703} Klage, Klage! Ein De profundis, das mein liebender Eifer ohne Beispiel nennt. Aber hat es nicht dennoch unter dem schöpferischen Gesichtspunkt, unter dem musikgeschichtlichen wie unter dem persönlicher Vollendung gesehen, eine jubilante, eine höchst sieghafte Bewandtnis mit dieser schaudervollen Gabe des Entgelts und der Schadloshaltung? Bedeutet es nicht den »Durchbruch«, von dem zwischen uns, wenn wir das Schicksal der Kunst, Stand und Stunde derselben, besannen und erörterten, so oft als von einem Problem, einer paradoxen Möglichkeit die Rede gewesen war, – die Wiedergewinnung, ich möchte nicht sagen und sage es um der Genauigkeit willen doch: die Rekonstruktion des Ausdrucks, der höchsten und tiefsten Ansprechung des Gefühls auf einer Stufe der Geistigkeit und der Formenstrenge, die erreicht werden mußte, damit dieses Umschlagen kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut und kreatürlich sich anvertrauende Herzlichkeit Ereignis werden könne?
    Ich kleide in Fragen, was nichts weiter ist als die Beschreibung eines Tatbestandes, der seine Erklärung im Gegenständlichen sowohl wie im Künstlerisch-Formalen findet. Die Klage nämlich – und um eine immerwährende, unerschöpflich akzentuierte Klage von schmerzhaftester Ecce homo-Gebärde handelt es sich ja – die Klage ist der Ausdruck selbst, man kann kühnlich sagen, daß aller Ausdruck eigentlich Klage ist, wie denn die Musik, sobald sie sich als Ausdruck begreift, am Beginn ihrer modernen Geschichte, zur Klage wird und zum »Lasciatemi morire«, zur Klage der Ariadne, zum leis widerhallenden Klagesang von Nymphen. Nicht umsonst knüpft die Faustus-Kantate stilistisch so stark und unverkennbar an Monteverdi und das 17. Jahrhundert an, dessen Musik – wiederum nicht umsonst – die Echo-Wirkung, zuweilen bis zur Manier, bevorzugte: Das Echo, das Zurückgeben des Menschenlautes als Naturlaut und seine Enthüllung
als
Naturlaut, ist wesent {704} lich Klage, das wehmutsvolle »Ach, ja!« der Natur über den Menschen und die versuchende Kundgebung seiner Einsamkeit, – wie umgekehrt die Nymphen-Klage ihrerseits dem Echo verwandt ist. In Leverkühns letzter und höchster Schöpfung aber ist dieses Lieblingsdessin des Barock, das Echo, oftmals mit unsäglich schwermütiger Wirkung verwendet.
    Ein Monstre-Werk der Klage, wie dieses, ist, sage ich, mit Notwendigkeit ein expressives Werk, ein Werk des Ausdruck und es ist damit ein Werk der Befreiung so gut, wie die frühe Musik, an die es sich über Jahrhunderte hin anschließt, Befreiung zum Ausdruck sein wollte. Nur daß der dialektische Prozeß, durch welchen auf der Entwicklungsstufe, die dieses Werk einnimmt, der Umschlag von strengster Gebundenheit zur freien Sprache des Affekts, die Geburt der Freiheit aus der Gebundenheit, sich vollzieht, unendlich komplizierter, unendlich bestürzender und wunderbarer in seiner Logik erscheint als zur Zeit der Madrigalisten. Ich will hier den Leser zurückverweisen auf das Gespräch, das ich eines schon fernen Tages, am Hochzeitstage seiner Schwester zu Buchel, auf einem Spaziergang die »Kuhmulde« entlang, mit Adrian hatte, und wobei er mir,

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