Doktor Faustus
unter dem Druck von Kopfschmerzen, seine Idee eines »strengen Satzes« entwickelte, abgeleitet aus der Art, wie in dem Liede »O lieb Mädel, wie schlecht bist du« Melodie und Harmonie von der Abwandlung eines fünftönigen Grundmotivs, des Buchstabensymbols h e a e es, bestimmt sind. Er ließ mich das »magische Quadrat« eines Stils oder einer Technik erblicken, die noch die äußerste Mannigfaltigkeit aus identisch festgehaltenen Materialien entwickelt und in der es nichts Unthematisches mehr gibt, nichts, was sich nicht als Variation eines immer Gleichen ausweisen könnte. Dieser Stil, diese Technik, so hieß es, ließen keinen Ton zu, nicht einen, der nicht in der Gesamtkonstruktion seine motivische Funktion erfüllte, – es gäbe keine freie Note mehr.
{705} Nun, habe ich nicht, als ich von Leverkühns apokalyptischem Oratorium ein Bild zu geben suchte, auf die substanzielle Identität des Seligsten mit dem Gräßlichsten, die innere Einerleiheit des Engelskinder-Chors mit dem Höllengelächter hingewiesen? Da ist, zum mystischen Schrecken des Bemerkenden, eine formale Utopie von schauerlicher Sinnigkeit verwirklicht, die in der Faust-Kantate universell wird, das Gesamtwerk ergreift und es, wenn ich so sagen darf, vom Thematischen restlos verzehrt sein läßt. Dies riesenhafte »Lamento« (seine Dauer beträgt ca. fünf Viertelstunden) ist recht eigentlich undynamisch, entwicklungslos, ohne Drama, so, wie konzentrische Kreise, die sich vermöge eines ins Wasser geworfenen Steins, einer um den anderen, ins Weite bilden, ohne Drama und immer das Gleiche sind. Ein ungeheueres Variationenwerk der Klage – negativ verwandt als solches dem Finale der Neunten Symphonie mit seinen Variationen des Jubels – breitet es sich in Ringen aus, von denen jeder den anderen unaufhaltsam nach sich zieht: Sätzen, Groß-Variationen, die den Texteinheiten oder Kapiteln des Buches entsprechen und in sich selbst wieder nichts anderes als Variationenfolgen sind. Alle aber gehen, als auf das Thema, auf eine höchst bildsame Grundfigur von Tönen zurück, die durch eine bestimmte Stelle des Textes gegeben ist.
Man erinnert sich ja, daß in dem alten Volksbuch , das Leben und Sterben des Erzmagiers erzählt, und dessen Abschnitte Leverkühn sich mit wenigen entschlossenen Griffen zur Unterlage seiner Sätze zurechtgefügt hat, der Dr. Faustus, als sein Stundenglas ausläuft, seine Freunde und vertrauten Gesellen, »Magistros, Baccalaureos und andere Studenten« nach dem Dorfe Rimlich nahe Wittenberg lädt, sie dort den Tag über freigebig bewirtet, zur Nacht auch noch einen »Johannstrunk« mit ihnen einnimmt und ihnen dann in einer zerknirschten, aber würdigen Rede sein Schicksal, und daß dessen Erfüllung {706} nun unmittelbar bevorsteht, kund und zu wissen tut. In dieser »Oratio Fausti ad Studiosos«, bittet er sie, seinen Leib, wenn sie ihn tot und erwürgt finden, barmherzig zur Erde zu bestatten; denn er sterbe, sagt er, als ein böser und guter Christ: ein guter kraft seiner Reue, und weil er im Herzen immer auf Gnade für seine Seele hoffe, ein böser, sofern er wisse, daß es nun ein gräßlich End mit ihm nehme und der Teufel den Leib haben wolle und müsse. – Diese Worte: »Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ«, bilden das Generalthema des Variationenwerks. Zählt man seine Silben nach, so sind es zwölf, und alle zwölf Töne der chromatischen Skala sind ihm gegeben, sämtliche denkbaren Intervalle darin verwandt. Längst ist es musikalisch vorhanden und wirksam, bevor es an seinem Orte von einer Chorgruppe, die das Solo vertritt – es gibt kein Solo im »Faustus« – textlich vorgetragen wird, ansteigend bis zur Mitte, dann absinkend im Geist und Tonfall des Monteverdi'schen Lamento. Es liegt zum Grunde allem, was da klingt, – besser: es liegt, als Tonart fast, hinter allem und schafft die Identität des Vielförmigsten, – jene Identität, die zwischen dem kristallenen Engelschor und dem Höllengejohle der »Apokalypse« waltet, und die nun allumfassend geworden ist: zu einer Formveranstaltung von letzter Rigorosität, die nichts Unthematisches mehr kennt, in der die Ordnung des Materials total wird, und innerhalb derer die Idee einer Fuge etwa der Sinnlosigkeit verfällt, eben weil es keine freie Note mehr gibt. Sie dient jedoch nun einem höheren Zweck, denn, o Wunder und tiefer Dämonenwitz! – vermöge der Restlosigkeit der Form eben wird die Musik als Sprache befreit. In einem
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