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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Sie nehme, hatten wir festgestellt, unter ihnen ungefähr einen Platz ein wie die Orgel unter den Instrumenten. Sie überblicke sie, fasse sie geistig zusammen, ordne und läutere die Ergebnisse aller Forschungsgebiete zum Weltbilde, zu einer überherrschenden und maßgebenden, den Sinn des Lebens erschließenden Synthese, zur schauenden Bestimmung der Stellung des Menschen im Kosmos. Mein Nachdenken über die Zukunft meines Freundes, über einen »Beruf« für ihn hatte mich immer zu ähnlichen Vorstellungen geführt. Sein vielseitiges Streben, wie es mich auch ängstlich um seine Gesundheit machte, sein von {122} kommentierender Kritik begleiteter Erfahrungsdrang, rechtfertigten solche Träume. Das Universellste, die Existenzform eines souveränen Polyhistors und Weltweisen war mir eben recht für ihn erschienen, und – weiter hatte meine Einbildungskraft mich nicht geführt. Nun mußte ich erfahren, daß er seinesteils im Stillen weiter gegangen war, daß er unter der Hand, ohne sich freilich die Miene davon zu geben – denn er äußerte seinen Entschluß in sehr ruhigen, unscheinbaren Worten – meinen Freundesehrgeiz überboten und beschämt hatte.
    Wenn man so will, gibt es ja eine Disziplin, in welcher die Königin Philosophie selbst zur Dienerin, zur Hilfswissenschaft, akademisch gesprochen zum »Nebenfach« wird, und das ist die Theologie. Wo die Weisheitsliebe sich zur Anschauung des höchsten Wesens, des Urquells des Seins, zur Lehre von Gott und den göttlichen Dingen erhebt, da, so könnte man sagen, ist der Gipfel wissenschaftlicher Würde, die höchste und vornehmste Sphäre der Erkenntnis, die Spitze des Denkens erreicht; dem beseelten Intellekt ist da sein erhabenstes Ziel gesetzt. Das erhabenste, weil hier die profanen Wissenschaften, zum Beispiel meine eigene, die Philologie, mit ihr die Historie und andere, zum bloßen Rüstzeug werden für den Dienst der Erkenntnis am Heiligen, – und das in tiefster Demut zu verfolgende Ziel auch wieder, weil es, nach dem Schriftworte, »höher ist als alle Vernunft« und der menschliche Geist dabei eine frömmere, gläubigere Bindung eingeht, als sonst irgendeine gelehrte Fachbeschränkung ihm auferlegt.
    Dies ging mir durch den Sinn, als Adrian mir seinen Entschluß mitteilte. Wenn er ihn aus einem gewissen Instinkt seelischer Selbstzucht gefaßt habe, nämlich aus dem Verlangen, seinen kühlen und ubiquitären, alles leicht auffassenden, durch Superiorität verwöhnten Intellekt im Religiösen einzufrieden und ihn darunter zu beugen, so wollte ich einverstanden sein. Es hätte nicht nur meine immer im Stillen rege, {123} unbestimmte Sorge um ihn beschwichtigt, es hätte mich auch tief gerührt, denn das Sacrificium intellectus, das die anschauende Kenntnis der anderen Welt notwendig mit sich bringt, muß desto höher veranschlagt werden, je stärker der Intellekt ist, der es bringt. – Aber ich glaubte im Grunde nicht an meines Freundes Demut. Ich glaubte an seinen Stolz, auf den ich meinesteils stolz war, und konnte im Grunde nicht zweifeln, daß dieser die Quelle seines Entschlusses gewesen war. Daher die Mischung von Freude und Angst, die den Schrecken ausmachte, der mich bei seiner Mitteilung durchfuhr.
    Er sah meine Verwirrung und schien sie dem Gedanken an einen Dritten, seinen Musiklehrer zuzuschreiben.
    »Du meinst gewiß, Kretzschmar wird enttäuscht sein«, sagte er. »Ich weiß wohl, er möchte, daß ich mich ganz der Polyhymnia ergebe. Sonderbar, daß die Leute einen immer auf den eigenen Weg ziehen wollen. Man kann es nicht allen recht machen. Aber ihm werde ich zu bedenken geben, daß durch die Liturgie und ihre Geschichte die Musik stark ins Theologische hineinspielt, – praktischer und künstlerischer sogar als ins Mathematisch-Physikalische, in die Akustik.«
    Indem er die Absicht kundgab, das Kretzschmarn zu sagen, sagte er es eigentlich mir, wie ich wohl merkte, und, wieder mit mir allein, ließ ich es mir wiederholt durch den Kopf gehen. Gewiß, im Verhältnis zur Wissenschaft von Gott und dem Gottesdienst nahmen, wie die weltlichen Wissenschaften, so auch die Künste, nahm gerade die Musik einen dienenden, hilfsmittelhaften Charakter an, und dieser Gedanke stand im Zusammenhang mit gewissen Diskussionen, die wir über das einerseits sehr förderliche, andererseits aber melancholisch belastende Schicksal der Kunst, ihre Emanzipation vom Kultus, ihre kulturelle Verweltlichung geführt hatten. Es war mir ganz klar: Der Wunsch,

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