Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
Gewerbsplatz um einer Hospital-Behandlung willen hatte verlassen müssen; und an ihrer neuen Stätte machte der Getriebene sie ausfindig.
    Wohl zittert die Hand mir beim Schreiben, aber mit stillen, gefaßten Worten werde ich sagen, was ich weiß, – getröstet immer bis zu einem gewissen Grade durch den Gedanken, dem ich vorhin schon Zutritt gewährte, den Gedanken der Wahl, den Gedanken, daß etwas einer Liebesbindung Ähnliches hier waltete, was der Vereinigung dieser kostbaren Jugend mit dem unseligen Geschöpf einen Schimmer des Seelenhaften verlieh. Freilich ist dieser Trostgedanke unlösbar an den anderen, desto grausigeren gekettet, daß Liebe und Gift hier einmal für immer zur furchtbaren Erfahrungseinheit wurden: der mythologischen Einheit, welche der
Pfeil
verkörpert.
    Es hat ganz den Anschein, als habe in dem armen Gemüt der Dirne etwas den Gefühlen geantwortet, die ihr der Jüngling entgegenbrachte. Kein Zweifel, sie erinnerte sich des flüchtigen Besuchers von damals. Ihre Annäherung, dies Streicheln seiner Wange mit dem nackten Arm, mochte der niedrig-zärtliche Ausdruck ihrer Empfänglichkeit gewesen sein für alles, was ihn von der üblichen Klientele unterschied. Sie erfuhr auch aus seinem Munde, daß er die Reise hierher um ihretwillen zurückgelegt habe, – und sie dankte es ihm,
indem sie ihn vor ihrem Körper warnte
. Ich weiß es von Adrian: sie warnte ihn; und {226} kommt nicht dies einer wohltuenden Unterscheidung gleich zwischen der höheren Menschlichkeit des Geschöpfes und ihrem der Gosse verfallenen, zum elenden Gebrauchsgegenstand herabgesunkenen physischen Teil? Die Unglückliche warnte den Verlangenden vor »sich«, das bedeutete einen Akt freier seelischer Erhebung über ihre erbarmungswürdige physische Existenz, einen Akt menschlicher Abstandnahme davon, einen Akt der Rührung, – das Wort sei mir gewährt, – einen Akt der Liebe. Und, gütiger Himmel, war es nicht Liebe auch, oder was war es, welche Versessenheit, welcher Wille zum gottversuchenden Wagnis, welcher Trieb, die Strafe in die Sünde einzubeziehen, endlich: welches tief geheimste Verlangen nach dämonischer Empfängnis, nach einer tödlich entfesselnden chymischen Veränderung seiner Natur wirkte dahin, daß der Gewarnte die Warnung verschmähte und auf dem Besitz dieses Fleisches bestand?
    Nie habe ich ohne ein religiöses Erschauern dieser Umarmung gedenken können, in welcher der Eine sein Heil darangab, der Andere es fand. Reinigend, rechtfertigend, emportragend muß es die Elende beglückt haben, daß der weither Gereiste auf jede Gefahr hin den Verzicht auf sie verweigerte; und es scheint, daß sie alle Süßigkeit ihres Weibtums aufbot, um ihn zu entschädigen für das, was er für sie wagte. Es war dafür gesorgt, daß er sie nicht vergaß; aber auch um ihrer selbst willen hat er, der sie nie wieder sah, sie niemals vergessen, und ihr Name – derjenige, den er ihr von Anfang an gegeben – geistert runenhaft, von niemandem wahrgenommen, als von mir, durch sein Werk. Möge man es mir als Eitelkeit auslegen, – ich kann es mir nicht versagen, schon hier der Entdeckung zu gedenken, die er mir eines Tages schweigend bestätigte. Leverkühn war nicht der erste Komponist und wird nicht der letzte gewesen sein, der es liebte, Heimlichkeiten formel- und sigelhafter Art in seinem Werk zu verschließen, die den eingebo {227} renen Hang der Musik zu abergläubischen Begehungen und Befolgungen, zahlenmystischen und buchstabensymbolischen, bekunden. So findet sich in den Tongeweben meines Freundes eine fünf- bis sechsköpfige Notenfolge, mit h beginnend, mit es endigend und mit wechselndem e und a dazwischen, auffallend häufig wieder, eine motivische Grundfigur von eigentümlich schwermütigem Gepräge, die in vielfachen harmonischen und rhythmischen Einkleidungen, bald der, bald jener Stimme zugeteilt, oft in vertauschter Reihenfolge, gleichsam um ihre Achse gedreht, so daß bei gleichbleibenden Intervallen die Abfolge der Töne verändert ist, darin ihr Wesen treibt: zuerst in dem wohl schönsten der noch in Leipzig komponierten dreizehn Brentano-Gesänge, dem herzzerwühlenden Liede »O lieb Mädel, wie schlecht bist du«, das ganz davon beherrscht ist, dann namentlich in dem Spätwerk, worin Kühnheit und Verzweiflung sich auf eine so einzigartige Weise mischen, der in Pfeiffering geschriebenen »Weheklag Dr. Fausti«, wo sich noch mehr die Neigung zeigt, die melodischen Intervalle auch

Weitere Kostenlose Bücher