Doktor Faustus
und wird bestimmend in dem Augenblick, wo die rein handwerklichen Vorstudien zur Kunstübung sich mit ersten eigenen, wenn {223} auch selbst noch völlig vorläufigen und vorbereitenden Gestaltungsversuchen zu verbinden anfangen.
XIX
Ich spreche von diesem Augenblick, indem ich, nicht ohne Erbeben, nicht ohne, daß sich mir das Herz zusammenkrampft, auf das verhängnisvolle Geschehnis zu sprechen komme, das eintrat ungefähr ein Jahr nachdem ich in Naumburg den angeführten Brief Adrians empfangen, etwas mehr als ein Jahr nach seiner Ankunft in Leipzig und jener ersten Besichtigung der Stadt, von der er mir in dem Brief berichtete, – also nicht lange bevor ich, vom Militär entlassen, wieder zu ihm stieß und ihn äußerlich unverändert, in Wahrheit aber als einen Gezeichneten, vom Pfeil des Schicksals Getroffenen, wiederfand. Mir ist, als sollte ich Apollon und die Musen anrufen, daß sie mir bei der Mitteilung jenes Geschehnisses die lautersten, schonendsten Worte eingeben mögen: schonend für den feinfühligen Leser, schonend für das Andenken des verewigten Freundes, schonend zuletzt für mich selbst, den es wie ein schweres persönliches Geständnis ankommt, dies zu überliefern. Aber die Richtung, in der diese Anrufung gehen möchte, zeigt mir so recht den Widerspruch zwischen meiner eigenen geistigen Kondition und der Eigenfärbung der Geschichte, die ich vorzutragen habe, einer Tönung, die aus ganz anderen, klassischer Bildungsheiterkeit ganz fremden Überlieferungsschichten stammt. Ich habe diese Aufzeichnungen ja mit dem Ausdruck des Zweifels begonnen, ob ich der rechte Mann sei für meine Aufgabe. Die Argumente, die ich gegen solchen Zweifel ins Feld zu führen hatte, wiederhole ich nicht. Genug, daß ich, gestützt auf sie, gestärkt von ihnen, meinem Unternehmen treu zu bleiben gedenke.
Ich sagte, daß Adrian an den Ort, wohin ein frecher Sendbote {224} ihn verschleppt, zurückkehrte. Man sieht nun, daß das nicht so bald geschah: Ein ganzes Jahr lang behauptete sich der Stolz des Geistes gegen die empfangene Verwundung, und eine Art von Trost war es immer für mich, daß sein Erliegen vor dem nackten Triebe, der ihn hämisch berührt hatte, denn doch nicht all und jeder seelischen Verhüllung und menschlichen Veredelung entbehrte. Eine solche nämlich sehe ich in jeder, wenn auch noch so kruden
Fixierung
der Begierde auf ein bestimmtes und individuelles Ziel; ich sehe sie in dem Moment der
Wahl
, sei diese auch unfreiwillig und von ihrem Gegenstande dreist provoziert. Ein Einschlag von Liebesläuterung ist wahrzuhaben, sobald der Trieb ein Menschenantlitz, und sei es das anonymste, verächtlichste, trägt. Und dies ist zu sagen, daß Adrian an jenen Ort um einer bestimmten Person willen zurückkehrte: derjenigen, deren Berührung auf seiner Wange brannte, der »Bräunlichen« im Jäckchen und mit dem großen Mund, die sich ihm am Klavier genähert, und die er Esmeralda nannte; daß sie es war, die er dort suchte – und daß er sie nicht mehr fand.
Die Fixierung, so unheilvoll sie war, bewirkte, daß er jene Stätte nach seinem zweiten, freiwilligen Besuch als derselbe verließ, wie nach dem ersten, unfreiwilligen, aber nicht ohne sich des Aufenthaltes des Weibes versichert zu haben, das ihn berührt hatte. Sie bewirkte ferner, daß er, unter einem musikalischen Vorwand, eine ziemlich weite Reise tat, um die Begehrte zu erreichen. Es fand nämlich damals, Mai 1906, unter des Komponisten eigener Leitung, in Graz, der Hauptstadt Steiermarks, die österreichische Première der »Salome« statt, zu deren überhaupt erster Aufführung Adrian einige Monate früher mit Kretzschmar nach Dresden gefahren war, und er erklärte seinem Lehrer und den Freunden, die er unterdessen in Leipzig gemacht, er wünsche das glückhaft-revolutionäre Werk, dessen ästhetische Sphäre ihn keineswegs anzog, das ihn {225} aber natürlich in musikalisch-technischer Beziehung und besonders noch als Vertonung eines Prosa-Dialogs interessierte, bei dieser festlichen Gelegenheit wiederzuhören. Er reiste allein, und es ist nicht mit Sicherheit zu bezeugen, ob er sein angebliches Vorhaben ausführte und von Graz nach Preßburg, möglicherweise auch von Preßburg nach Graz fuhr, oder ob er den Aufenthalt in Graz nur vorspiegelte und sich auf den Besuch von Preßburg, ungarisch Pozsony genannt, beschränkte. In ein dortiges Haus nämlich war diejenige, deren Berührung er trug, verschlagen worden, da sie ihren vorigen
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