Doktor Pascal - 20
Literaturwissenschaftler Brunetière, einer der führenden Vertreter superkonservativer Wissenschaftsgesinnung, 1890 in einem Aufsatz »Über Schopenhauer und die Folgen des Pessimismus«. »Und deshalb«, so fuhr er fort, »werden die Religionen auch nie untergehen, weil sie anderen Bedürfnissen entsprechen als denen zu erkennen, umfassenderen, tieferen, vielleicht vornehmeren.« Brunetière spricht aus, was sich seit Anfang der achtziger Jahre auf den verschiedenen Ebenen vollzog und was vor allem auch und gerade in der Literatur spürbar wird. Bourgets »Essays der zeitgenössischen Psychologie« zeigen schon 1883 ein Schwanken zwischen Taine und einem Hang zur Mystik, sein Roman »Der Schüler« (1889) endet mit der Verzweiflung seines Helden, des Philosophen Adrien Sixte, an der Richtigkeit und Berechtigung seiner pessimistischen Lehre und einer Flucht in die Beschwörungsformeln des Gebets … Vater unser …! Er kapituliert, wo Des Esseintes, der Held aus Huysmans˜ Roman »Wider den Strich« (1884), noch zu kämpfen suchte. Doch auch Des Esseintes˜ letzte Worte sind ein Gebet: »Herr, erbarme Dich des Christen, der zweifelt, des Ungläubigen, der glauben möchte, des Sträflings des Lebens, der einsam sich einschifft ohne die tröstenden Fanale einer alten Hoffnung.« Und Huysmans war ein Schüler Zolas. Um 1885 ist die Wendung in der Literatur vollzogen, der Symbolismus und das renouveau catholique sind im Vormarsch.
Zola ist ein sehr genauer Beobachter dieser Vorgänge. Schon in der »Freude am Leben« (1884) macht er eine Anspielung auf diese Tendenzen: » … unsere jungen Leute, die nur von den Wissenschaften gekostet haben, sind krank, weil sie ihre alten Ideen vom Absoluten, die sie mit der Muttermilch eingesogen haben, darin nicht befriedigen konnten.« Und er erteilt mit dem Optimismus Paulines, der Hauptgestalt seines Romans, dem Pessimismus eine Abfuhr. Zwei Jahre danach kommt Sandoz im »Werk« auf diesen Gedanken vom, sinkenden Kredit der Wissenschaft wieder zurück: »Man hat zuviel gehofft, man hat zuviel versprochen, man hat die Eroberung und Erklärung eines jeden Dings erwartet; nun gibt es ein Einhalten aus Ermüden und Angst … der Mystizismus vernebelt die Gehirne.« Diese Sätze kehren 1891 fast Wort für Wort in Zolas Antwort auf die bekannte Umfrage Hurets über die literarische Entwicklung wieder. Die jungen Leute sind ungeduldig, sie machen die Wissenschaft dafür verantwortlich, daß sie noch nicht die ganze Wahrheit und das ganze Glück zutage gefördert hat. Sie wollen etwas anderes, das ist verständlich, aber was sie anzubieten haben, bringt keine Lösung, Denn was bietet man »als Gegengewicht gegen die ungeheure positivistische Arbeit der letzten fünfzig Jahre? … Ein unbestimmtes symbolistisches Etikett für einige nichtssagende Verse … Um das erstaunliche Ende dieses ungeheuren Jahrhunderts zu beschließen, um diese allgemeine Angst des Zweifels, diese Erschütterung der nach Gewißheit dürstenden Gemüter zu artikulieren … bietet man uns die Reimereien einiger Kneipenstammgäste.« Die Symbolisten wollen die Entwicklung zurückdrehen, sie lieben ihr Jahrhundert nicht» aber sie sind noch nicht einmal fähig, ihren Widerwillen rundheraus auszudrücken. Diesem Versagen setzt Zola seine eigene Überzeugung entgegen: »Die Zukunft wird denen gehören, die die Seele der modernen Gesellschaft erfaßt haben, sich von den allzu starren Theorien lösen und zu einer logischeren, bewegteren Annahme des Lebens kommen. Ich glaube an die Darstellung einer breiteren, komplexeren Wahrheit, an eine größere Öffnung auf die Menschheit …« (Hervorhebung R. Sch.)
Damit ist Zolas Position in der zeitgenössischen Auseinandersetzung dieser Jahre zwischen Glauben und Wissenschaft eindeutig festgelegt. Sie ändert sich nicht mehr, sondern verstärkt sich nur noch. Und gerade in der Zeit der Fertigstellung des »Doktor Pascal« hat Zola mehrfach Gelegenheit genommen, sie öffentlich kundzutun.
Am 29. April 1893 antwortet er einem Redakteur des »Temps« im Hinblick auf den Sinn seines neuen Romans: »Ich werde von der Beunruhigung sprechen, die dieses Jahrhundertende kennzeichnet und die sich durch eine Rückkehr zur Vergangenheit, durch eine Wiederauferstehung der alten religiösen und philosophischen Lehren kundtut … Meine Doktrin, die der Positivismus ist, hat sich nicht geändert … Ich werde meinen jungen Kollegen die Gefahren der Illusion und des Mystizismus zeigen … Ich
Weitere Kostenlose Bücher