Doktor Pascal - 20
setze meinen Glauben in die Wissenschaft, und ich glaube nicht an eine Restauration der alten Religionen …«
Und nur wenige Tage danach, am 15. Mai, bringt er in seiner großen Rede vor der Generalassoziation der Pariser Studenten die gleiche Überzeugung zum Ausdruck:
» … Meine Herren, ich höre ständig sagen, daß der Positivismus in den letzten Zügen liegt, daß der Naturalismus tot ist und daß die Wissenschaft im Begriff steht, Bankrott zu machen vom Standpunkt des moralischen Friedens und des menschlichen Glücks, das sie angeblich versprochen hat … Meine Generation … hat sich in der Tat bemüht, die Fenster auf die Natur weit zu öffnen, alles zu sehen, alles zu sagen … Sie war das Ergebnis … der langen Bemühung der positivistischen Philosophie und der analytischen und experimentellen Wissenschaften. Wir haben nur bei der Wissenschaft geschworen, die uns von allen Seiten einhüllte, wir haben von ihr gelebt, indem wir die Luft unseres Zeitalters einatmeten. Heute kann ich sogar bekennen, daß ich persönlich ein Sektierer war, indem ich versuchte, die strenge Methode des Wissenschaftlers auf das Gebiet der Literatur zu übertragen. Aber ich bedaure nichts … Doch welch ein Enthusiasmus und welch eine Hoffnung waren die unseren. Alles wissen, alles können, alles erobern. Mit Hilfe der Wahrheit eine bessere und glücklichere Menschheit erbauen! … Ich leugne keineswegs die Krise, die wir durchmachen,.. Es schien, daß die Wissenschaft, die die alte Welt zerstört hatte, sie nach dem Modell, was wir uns von Gerechtigkeit und Glück machten, schnell wieder aufbauen mußte, Und man hat zwanzig Jahre gewartet, man hat fünfzig Jahre gewartet … und als man sah, daß noch immer keine Gerechtigkeit herrschte, daß das Glück nicht gekommen war, haben viele einer wachsenden Ungeduld nachgegeben … Was nützte es, zu wissen, wenn man doch nicht alles wissen kann? Dann konnte man gleich die reine Einfachheit bewahren, die unwissende Glückseligkeit des Kindes. Und so hätte die Wissenschaft, die angeblich das Glück versprochen hat, unter unseren Augen Bankrott gemacht … Aber der Glaube steht nicht wieder auf, mit den toten Religionen kann man nur noch Mythologien machen. Daher wird auch das kommende Jahrhundert nur die Bestätigung des unseren sein, in diesem Aufschwung von Demokratie und Wissenschaft, der uns mit sich gerissen hat und der weiter anhält …« (Hervorhebung R. Sch.)
Nein, für Zola gibt es keinen Bankrott der Wissenschaft, bestenfalls ein Innehalten, ein Verschnaufen auf ihrem Weg nach vorn. Pascal, als Zolas Sprachrohr im Roman, spricht im vierten Kapitel diese Überzeugung deutlich aus, in der nächtlichen Diskussion um den Sinn der Wissenschaft mit Clotilde, die die Gegenthese vertritt. »Wir sind am Wendepunkt dieses Jahrhunderts angelangt, ermüdet, entnervt von der schrecklichen Masse von Kenntnissen, die es in Bewegung gesetzt hat … Und es ist das ewige Bedürfnis nach Lüge, nach Illusion, das die Menschheit quält und nach rückwärts zieht, zum einlullenden Zauber des Unbekannten … Ja, das ist die aggressive Rückkehr des Mysteriums, die Reaktion auf hundert Jahre experimenteller Untersuchung. So mußte es kommen, man muß auf Abtrünnigkeit gefaßt sein, wenn man nicht alle Bedürfnisse auf einmal befriedigen kann. Aber das ist nur ein Innehalten, der Weg nach vorwärts wird weitergehen, außerhalb unseres Blickfeldes, in der Unendlichkeit des Raumes.« (Hervorhebung R. Sch.)
Und als Brunetière zwei Jahre später in einem aufsehenerregenden Artikel unter der Überschrift »Bankrott der Wissenschaft« erneut gleichsam das Motto des Jahres verkündete, notierte Zola in seinen Vorarbeiten für »Paris«: »Dieser famose Bankrott der Wissenschaft ist eine ungeheure Dummheit. Die Wissenschaft ist allmächtig, und der Glaube gerät vor ihr ins Wanken.« Und dies schrieb er, nachdem er mehrfach, das erstemal schon 1891, also noch zwei Jahre vor der Ausarbeitung des »Doktor Pascal«, in Lourdes, dem Zentrum des neuen Wunderglaubens, gewesen war und die religiöse Massenhysterie an Ort und Stelle erlebt hatte. Zola wußte, wovon er sprach, er kannte die Dinge aus eigener Anschauung und verfolgte die Entwicklung, wie er in der Rede vor den Studenten und auch sonst mehrfach betonte, in der Presse und in den Publikationen sehr genau.
Trotz aller grundsätzlichen Gegenpositionen gingen diese Auseinandersetzungen aber nicht spurlos an seinen Anschauungen vorüber. Mehrere
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