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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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seinem Lande Ruhm bringen würde, oder besser noch einer jener Hirten des Volkes, die die Leidenschaften beschwichtigen und der Gerechtigkeit zur Herrschaft verhelfen? Sie sah ihn bereits sehr schön, sehr gütig und sehr mächtig. Und das war der Traum aller Mütter, die Gewißheit, den erwarteten Messias zur Welt gebracht zu haben; und in dieser Hoffnung, in diesem beharrlichen Glauben jeder Mutter an den sicheren Triumph ihres Kindes lag ebenjene Hoffnung beschlossen, die das Leben schafft, der Glaube, der der Menschheit die unaufhörlich von neuem erstehende Kraft verleiht, immer weiterzuleben.
    Was würde aus dem Kleinen werden? Sie betrachtete ihn und suchte Ähnlichkeiten zu entdecken. Von seinem Vater hatte er gewiß die Stirn und die Augen, etwas Edles und Solides in der Form des Schädels. Sie selber erkannte sich in ihm wieder mit ihrem feinen Mund und ihrem zarten Kinn. In heimlicher Unruhe suchte sie dann die anderen, die schrecklichen Vorfahren, all jene, die dort im Stammbaum mit den sprießenden Erbblättern eingetragen waren. Würde das Kind wohl diesem hier oder jenem oder noch einem anderen gleichen? Doch sie beruhigte sich wieder, sie konnte nicht anders als hoffen, so erfüllt war ihr Herz von der ewigen Hoffnung. Der Glaube an das Leben, den der Meister tief in sie hineingesenkt hatte, ließ sie tapfer, aufrecht und unerschütterlich bleiben. Was bedeuteten schon Elend, Leiden, Abscheulichkeiten! Die Gesundheit lag in der allumfassenden Arbeit, in der befruchtenden und gebärenden Kraft. Das Werk war gut, wenn die Frucht der Liebe das Kind war. Dann lebte die Hoffnung sogleich wieder auf, trotz der offenen Wunden, trotz des düsteren Bildes menschlicher Schande. Sie war das immerwährende, das wieder und wieder versuchte Leben, das man nicht müde wird für gut zu halten, da man es inmitten von Ungerechtigkeit und Schmerz mit soviel Beharrlichkeit lebt.
    Clotilde hatte unwillkürlich einen Blick auf den Stammbaum der Vorfahren geworfen, der neben ihr ausgebreitet lag. Ja, dort war die Gefahr! So viele Verbrechen, soviel Schmutz neben so vielen Tränen und soviel leidender Güte! Eine so außergewöhnliche Mischung von Größe und Niedrigkeit, ein Abriß der Menschheit mit all ihren Fehlern und all ihren Kämpfen! Man mußte sich fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, dieses verderbte, erbärmliche Gewimmel mit einem Blitzschlag auszulöschen. Und nach so vielen schrecklichen Rougons, nach so vielen abscheulichen Macquarts war nun noch einer geboren. Das Leben fürchtete sich nicht, in der mutigen Herausforderung seiner ewigen Dauer noch einen solchen zu erschaffen. Es verfolgte sein Werk, pflanzte sich fort gemäß seinen Gesetzen, gleichgültig gegenüber allen Hypothesen, um seiner nie endenden Mühsal willen immer auf dem Marsch. Selbst auf die Gefahr hin, Ungeheuer zu erzeugen, mußte es neues Leben erschaffen, denn wenn es auch Kranke und Irre hervorbringt, wird es des Erschaffens doch nicht müde, zweifellos in der Hoffnung, daß eines Tages die Gesunden und Weisen kommen werden. Das Leben, das Leben, das in Strömen dahinfließt, das nicht abreißt und von neuem beginnt, auf eine unbekannte Vollendung zu! Das Leben, in dem wir baden, das Leben mit seinen unendlichen und gegensätzlichen Strömungen, immer in Bewegung und unermeßlich wie ein grenzenloses Meer!
    Inbrünstige Mutterliebe stieg aus dem Herzen von Clotilde auf, die beglückt fühlte, wie der kleine gierige Mund unaufhörlich von ihr trank. Es war ein Gebet, eine Anrufung. Eine Anrufung des unbekannten Kindes wie des unbekannten Gottes! Eine Anrufung des Kindes, das morgen sein würde, des Genius, der vielleicht geboren wurde, des Messias, den das kommende Jahrhundert erwartete und der die Völker aus ihrem Zweifel und ihrem Leiden erlösen würde! Die Nation bedurfte der Wiedergeburt: kam da nicht jener, dieses Werk zu vollbringen? Er würde den Versuch wiederholen, die Mauern wieder aufrichten, den im Dunkel tappenden Menschen eine Gewißheit geben, das Reich der Gerechtigkeit erbauen, in dem die Arbeit als einziges Gesetz das Glück sicherte. In unsicheren Zeiten muß man die Propheten erwarten. Es sei denn, es wäre der Antichrist, der Dämon der Verwüstung, das verheißene Tier, das die Erde von der allzu groß gewordenen Unreinheit befreit. Aber selbst dann ginge das Leben weiter, man müßte sich nur abermals Tausende von Jahren gedulden, bevor das andere unbekannte Kind, der Heilbringer, erschiene.
    Der Kleine

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