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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Bourgeoisie diesen Machenschaften entgegensetzte. Mit der Annahme der Verfassung Mitte der siebziger und der Reformgesetzgebung Anfang der achtziger Jahre trat zwar eine Stabilisierung der republikanischen Staatsform ein, nicht aber eine Gesundung der sozialen Verhältnisse. Im Gegenteil. Die französische Bourgeoisie, die durch die Schlappe im Deutsch Französischen Krieg einen Tempoverlust im internationalen Konkurrenzkampf erlitten hatte, trachtete diesen mit allen Mitteln aufzuholen. Groß angelegte Kolonialunternehmungen in Asien und Afrika mit den dazugehörendes Finanzspekulationen und Bankkrachs, verstärkter Kapitalexport mit einer daraus resultierenden unausgewogenen Entwicklung der eigenen Industrieproduktion und dementsprechenden Krisen waren die Folge. Sie führten unausweichlich zu einer Verstärkung des Klassenkampfes und zu neuen reaktionären Machenschaften.
    Bei den Wahlen 1885 erhalten die Monarchisten 200 Sitze, zwei Jahre danach steht Frankreich kurz vor einem Staatsstreich des Generals Boulanger, und in den Zusammenbruch der Panamagesellschaft 1888, der schließlich 1892 zur gerichtlichen Untersuchung führt, sind höchste Mitglieder der Regierung verwickelt.
    Diese reaktionäre Politik zeitigt und braucht eine reaktionäre Ideologie. Militarismus, Chauvinismus und Rassismus greifen um sich. Der jüdische Hauptmann Dreyfus wird ihr erstes Opfer werden. Seine unschuldige Verurteilung im Dezember 1894 ist der Anlaß zu einer politischen Krise, die Frankreich Ende der neunziger Jahre an den Rand des Abgrunds führt, die letzten liberalen Illusionen hinwegfegt und die Korruptheit des bestehenden Staatsapparates weithin sichtbar macht Diese Dreyfuskrise wird zugleich aber Zolas große Bewährungsstunde, in der sich Ansichten und Überzeugungen, die am Anfang dieses letzten Jahrzehnts erneut gesichtet und überprüft werden, in praktische Aktion umsetzen.
    Doch nicht nur in der politischideologischen Sphäre hatten sich seit 1868 tiefgreifende Wandlungen vollzogen, Sie betrafen das gesamte geistigkulturelle Klima.
    Zolas Generation war in den sechziger Jahren im Namen der Wissenschaft angetreten zum Marsch in eine bessere Zukunft, und die »RougonMacquart« verfolgten eine »wissenschaftliche« Zielstellung – zumindest nach des Autors Erklärung an Lacroix –, nämlich: » … in der Familie die Träger des Bluts und des Milieus zu studieren« (Hervorhebung R. Sch.). Und »Wissenschaft« hieß in jenen Jahren für einen jungen bürgerlichen Intellektuellen: Schwören auf die positivistische Methode, Überzeugtsein von der Richtigkeit der Comteschen Anthropologie und Gesellschaftslehre, mit oder ohne die Modifikationen Taines, und Anerkennung des Primats der Naturwissenschaften.
    Die Selbstgewißheit des Szientismus, mit Hilfe von Vernunft und Forschung allen Geheimnissen in Natur und Gesellschaft auf die Spur zu kommen, verkrampfte sich jedoch in einem rigorosen Determinismus. Die positivistische Beschränkung auf faktenkonstatierende Beschreibung des Wie unter Ausklammerung des Warum, die Zola in Anlehnung an Claude Bernard so ausführlich in seinem »Experimentalroman« dargelegt hatte, verlor sich in Sterilität. Die vorbehaltlose Modellierung der Humanwissenschaften nach dem Muster der Naturwissenschaften verurteilte sie zum Verkennen gerade der Spezifik menschlichgesellschaftlicher Entwicklungen. Der Rückschlag auf die hochgespannten und nicht erfüllten Erwartungen in die Wissenschaft, zur Klärung der sozialen Fragen, der menschlichen Probleme beizutragen, führte zur Skepsis und Anlehnung an idealistische philosophische Positionen. Der Druck der politischen und ökonomischgesellschaftlichen Entwicklung drängte in die gleiche Richtung. So hatten alle »Heilslehren«, angefangen vom Skeptizismus Schopenhauers über den Voluntarismus und Neokritizismus Renouviers bis hin zum offenen Mystizismus, leichtes Spiel, sich als Mittel geistiger Erneuerung zu empfehlen. Wo die Vernunft versagt zu haben schien, sollte Intuition, gläubige Hingabe an die geheimnisvollen Kräfte des Übernatürlichen die Lösung der ewigen großen Seinsfragen bringen. Eine Woge des Wunderglaubens überflutete das Land. Die katholische Kirche organisierte Pilgerfahrten nach Lourdes. Glaube statt Wissenschaft war die Devise.
    »Die Wissenschaft … wird niemals das Rätsel der Welt und der menschlichen Bestimmung lösen … Die Fragen, die uns am meisten interessieren, bleiben außerhalb ihres Zugriffs«, schrieb der

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