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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Sätze in der Antwort an Huret, den »Temps« und in der Rede vor den Studenten weisen auf eine gewisse kritische Distanz zu seiner eigenen Haltung in den sechziger Jahren. Er war selbst« ein Sektierer, sagt er, die Methode war vielleicht zu starr, es bedurfte einer großzügigeren Öffnung auf die Zukunft. Aber diese modifizierte Ansicht wird nicht wie früher apodiktisch als objektiv erkannte Notwendigkeit ausgesprochen, sondern als subjektive Überzeugung einer Möglichkeit, als eigener Glaube. So wird die Wissenschaft im Kampf gegen den Glauben verteidigt mit dem Glauben an die Wissenschaft, an die Vernunft und vor allem mit dem Glauben an die heilsame Kraft der Arbeit, mit einem optimistischen Vertrauen in die ewig wirkenden Lebenskräfte. Mit diesem Bekenntnis schließt die Rede vor den Studenten.
    Wir sind weit entfernt von dem deterministischen Rigorismus, mit dem einst der junge Zola, überzeugt von der absoluten Gültigkeit der Comteschen Philosophie und der Vererbungstheorien des Dr. Lucas, in den Planentwürfen für die »RougonMacquart« den Weg dieser Familie als Paradigma der kommenden Gesellschaftsentwicklung formuliert hatte.
    Die Ursache für diesen Wandel lag in erster Linie in der veränderten ideologischen und wissenschaftlichen Situation. Doch die Richtung dieses Wandels auf eine weniger starre, optimistischere Weltsicht, auf ein größeres Vertrauen in das Positive im Menschen wurde zweifelsohne auch durch die Veränderungen in seinem persönlichen Leben mitbestimmt.
    Auf dem oben erwähnten Festessen hielt der langjährige Verleger und Freund Zolas, Charpentier, eine kurze Ansprache. Er dankte den anwesenden Gästen für ihr Erscheinen, erinnerte an die mancherlei Stürme und Kämpfe, die dieses Werk ausgelöst und bestanden, an die Beharrlichkeit und Ausdauer und die unerschütterliche Arbeitsdisziplin, mit der sein Autor es schließlich zum erfolgreichen Ende geführt hatte, erwähnte zugleich die ebenso unerschütterliche Freundschaft, die Autor und Verleger in all diesen stürmischen Jahren verband, und schloß endlich mit einem Toast auf Madame Zola, »die tapfere und ergebene Gefährtin aus den alten Zeiten, den glücklicherweise nun fernen Zeiten des Kummers und des Elends«.
    Für den Eingeweihten konnte dieser Schluß wie die leise Mahnung eines wohlmeinenden Freundes erscheinen, ob des neuen Glücks nicht die Gefährtin aus den schweren Jahren des Anfangs zu vergessen. Denn Zola lebte seit fünf Jahren ein neues Glück in der Verbindung mit der achtundzwanzig Jahre jüngeren Jeanne Rozerot, die ihm 1889 eine Tochter Denise, 1891 einen Sohn Jacques geschenkt hatte und die Zola damit die späte und längst nicht mehr erhoffte Erfüllung gab, Vater zu sein. »Faire la vie« war seine höchste Forderung an literarisches Schöpfertum gewesen, und jahrzehntelang hatte er sich gemüht, aus seinem Kopf Leben herauszuschlagen und es in Worten, in Sätzen, in der Sprache Gestalt gewinnen zu lassen. Aber nun hielt er das gezeugte Leben blutwarm in seinen Armen, und sein ganzes Dasein war dadurch wie verwandelt. Edmond de Goncourt erzählt in seinem »Journal«, daß er Zola auf der Straße getroffen und beinahe nicht erkannt habe, so verändert sei er gewesen: strahlend, verjüngt, schlank geworden, elastisch. Neue Lebensfreude erfüllte ihn, und dieses im intimsten persönlichen Bezirk gewandelte Weltverhältnis trug sicher dazu bei, daß der »alte Positivist« von gestern auch ein neues Verhältnis zur Zielsetzung seiner schriftstellerischen Arbeit gewann. Zwar änderte sie sich nicht prinzipiell. Nach wie vor war Literatur ein Explorationsfeld des Menschen, zu dessen Gesundung und Fortschritt sie mit den ihr gegebenen Mitteln beizutragen hatte. Aber bisher hatte er gemeint, dieses Ziel vor allem durch Aufdeckung der Wunden und Krankheiten am Körper der Gesellschaft zu erreichen, durch Kritik an ihren Fehlern und Gebrechen. Nun glaubte er, direkt durch die Predigt eines neuen Credos, seines Credos, ihren Zukunftsweg erhellen zu können. Kein Ausbrennen der Vergangenheit mehr, sondern Verkündung des Kommenden. Und die nächsten literarischen Arbeiten, die »Drei Städte« und die »Vier Evangelien«, verschreiben sich dieser Aufgabe. Zu ihrer Bewältigung würde es allerdings einer tragfähigen Idee für die Gestaltung des menschlichen Gemeinwesens bedürfen.
    Das vorliegende Buch jedoch, der »Doktor Pascal«, liegt genau an der Nahtstelle zwischen diesem Gestern und dem Morgen, und

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