Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
Gartenhut und das leichte Spitzentuch, das sie sich um den Hals gebunden hatte, abzunehmen.
    »Ach!« sagte sie. »Mir ist heiß! Wie dumm, daß ich das nicht gleich unten abgelegt habe! Ich werde es nachher wieder hinunterbringen.«
    Beim Hereinkommen hatte sie das Spitzentuch auf einen Sessel geworfen. Doch ihre Hände wurden ungeduldig, als sie die Kinnbänder des großen Strohhuts lösen wollte.
    »Da haben wir˜s! Jetzt habe ich einen Knoten gemacht. Ich schaffe es nicht allein, du mußt mir helfen.«
    Pascal, der von dem ausgiebigen Spaziergang ebenfalls aufgemuntert war, freute sich, sie so schön und so glücklich zu sehen. Er ging zu ihr und mußte ganz nah an sie herantreten.
    »Warte, heb das Kinn … Oh! Du stehst ja nicht still, wie soll ich da zu Rande kommen?«
    Sie lachte lauter, und er sah, wie das Lachen mit einer klingenden Woge ihre Kehle schwellte. Seine Finger verhedderten sich unter dem Kinn, an jener köstlichen Partie des Halses, deren warme Atlashaut er unwillkürlich berührte. Sie trug ein sehr tief ausgeschnittenes Kleid, er atmete sie ganz durch diese Öffnung, aus der der lebendige Duft des Weibes aufstieg, der reine, durch die glühende Sonne erwärmte Duft ihrer Jugend. Plötzlich überkam ihn ein Schwindelgefühl, er glaubte ohnmächtig zu werden.
    »Nein, nein, ich kann nicht, wenn du nicht stillhältst!«
    In seinen Schläfen klopfte das Blut, und seine Finger versagten ihm den Dienst, während Clotilde sich noch weiter zurückbog und die Lockung ihrer Jungfräulichkeit darbot, ohne es zu wissen. Welch eine Erscheinung königlicher Jugend, die klaren Augen, die gesunden Lippen, die frischen Wangen, der zarte Hals vor allem, atlasweich und rund, zum Nacken hin von Flaumhaar beschattet. Und er fühlte, wie zart, wie schlank sie war, wie zierlich die Brust in ihrem göttlichen Erblühen!
    »So, es ist geschafft!« rief sie.
    Ohne zu wissen, wie, hatte er die Bänder gelöst. Die Wände um ihn drehten sich, er sah Clotilde noch, jetzt ohne Hut, mit ihrem Sternenantlitz, wie sie lachend ihre goldblonden Locken schüttelte. Da bekam er Angst, er könnte sie wieder in seine Arme nehmen und sie überall dort, wo sie etwas von ihrer Nacktheit zeigte, mit wilden Küssen bedecken. Und er floh, den Hut mitnehmend, den er in der Hand hielt, und stammelte:
    »Ich hänge ihn unten im Hausflur auf … Warte auf mich, ich muß mit Martine sprechen.«
    Unten flüchtete er sich in den verlassenen Salon und schloß sich doppelt ein, zitternd, sie könnte sich beunruhigen und herunterkommen, um ihn hier zu suchen. Er war fassungslos und verstört, als hätte er soeben ein Verbrechen begangen. Er sprach ganz laut, er erschauerte bei diesem ersten Aufschrei, der über seine Lippen kam: »Ich habe sie immer geliebt, sie rasend begehrt!« Ja, seit sie Frau geworden war, betete er sie an. Und er sah plötzlich klar, er sah die Frau, zu der sie geworden war, seit sich aus der geschlechtslosen Hopfenstange dieses Geschöpf voll Anmut und Liebreiz entwickelt hatte mit seinen langen schlanken Beinen, seinem hochaufgeschossenen kräftigen Körper mit dem runden Busen, dem runden Hals, den runden und biegsamen Armen. Ihr Nacken, ihre Schultern waren rein wie Milch, weißseiden, glatt, von unendlicher Zartheit. Und es war ungeheuerlich, doch nur zu wahr: ihn hungerte nach diesem allem, er verzehrte sich nach dieser Jugend, nach dieser reinen, duftenden Blüte des Fleisches.
    Pascal, der auf einen wackligen Stuhl gesunken war und das Gesicht in den Händen vergraben hatte, als wollte er das Licht des Tages nicht mehr sehen, brach nun in heftiges Schluchzen aus. Mein Gott! Was sollte aus ihm werden? Ein kleines Mädchen, das ihm sein Bruder anvertraut, das er als guter Vater aufgezogen hatte und das nun, mit seinen fünfundzwanzig Jahren, zur Versuchung geworden war, zum Weib in seiner unumschränkten Allmacht! Er fühlte sich wehrloser, kraftloser als ein Kind.
    Über das physische Begehren hinaus liebte er sie mit unendlicher Zärtlichkeit, hingerissen von ihrer sittlichen und geistigen Persönlichkeit, von der Geradheit ihres Empfindens, von ihrer tapferen, klaren guten Gesinnung. Bis hin zu ihrem Streit, jener Unruhe wegen des Mysteriums, die sie quälte, gab es nichts, wodurch sie ihm nicht vollends kostbar wurde, ein Wesen, das anders geartet war als er und in dem er ein wenig von der Unendlichkeit der Dinge wiederfand. Sie gefiel ihm in ihrer Empörung, wenn sie ihm die Stirn bot. Sie war die Gefährtin und

Weitere Kostenlose Bücher