Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
die Schülerin, er sah sie so, wie er sie geformt hatte, mit ihrem edlen Herzen, ihrer leidenschaftlichen Offenheit, ihrer sieghaften Vernunft. Und sie war für ihn stets notwendig und gegenwärtig; er vermochte sich nicht vorzustellen, daß er eine Luft atmen könnte, in der es sie nicht mehr gab; er brauchte ihren Atem, das Schwingen ihrer Röcke in seiner Nähe, ihr Denken, ihre Zuneigung, von der er sich umgeben fühlte, ihre Blicke, ihr Lächeln, ihr ganzes tägliches frauliches Leben, das sie ihm gewidmet hatte, und sie konnte nicht so grausam sein, ihn dessen zu berauben. Bei dem Gedanken, sie könnte fortgehen, war ihm, als stürzte der Himmel über seinem Haupt zusammen, als wäre das Ende von allem, die letzte Finsternis gekommen. Es gab auf der Welt nur sie, sie war die einzig Edle und Gütige, die einzig Kluge und Verständige, die einzig Schöne, so schön wie ein Wunder. Da er sie doch anbetete und da er ihr Meister war, warum ging er dann nicht hinauf, nahm sie wieder in seine Arme und küßte sie wie das Bild einer Göttin? Sie waren beide ganz frei, Clotilde war über alles im Bilde und alt genug, Frau zu sein. Es würde das Glück bedeuten.
    Pascal hatte aufgehört zu weinen; er erhob sich und wollte zur Tür gehen. Doch plötzlich sank er auf den Stuhl zurück, wieder von Schluchzen geschüttelt. Nein, nein! Das war abscheulich, das war unmöglich! Er hatte soeben sein weißes Haar wie Eis auf seinem Kopf empfunden; es graute ihn vor seinem Alter, vor seinen neunundfünfzig Jahren, wenn er an ihre fünfundzwanzig Jahre dachte. Entsetzen ließ ihn von neuem erschauern, die Gewißheit, daß er von ihr besessen war, daß er nicht die Kraft hätte, der täglichen Versuchung zu widerstehen. Er sah sie, wie sie ihn die Bänder ihres Hutes aufknüpfen ließ, wie sie ihn rief, ihn zwang, sich wegen irgendeiner Korrektur ihrer Arbeit über sie zu beugen; und er sah sich, wie er, blind vor Begierde und seiner Sinne nicht mehr mächtig, ihren Hals, ihren Nacken förmlich verschlang. Oder noch schlimmer, daß sie, wenn sie des Abends beide zögerten, sich die Lampe bringen zu lassen, beim langsamen Einbruch der verschwörerischen Dunkelheit schwach wurden, daß sie einander, ohne es zu wollen, in die Arme stürzten und das Nichtwiedergutzumachende taten. Ihn erfaßte heftiger Zorn gegen diese Lösung, die möglich, ja sogar gewiß war, wenn er nicht den Mut zur Trennung fand. Es wäre das schlimmste Verbrechen, das er begehen konnte, ein Mißbrauch des Vertrauens, eine gemeine Verführung. Seine Empörung war so groß, daß er sich diesmal mutig erhob und die Kraft hatte, wieder in das große Arbeitszimmer hinaufzugehen, fest entschlossen zu kämpfen.
    Oben hatte Clotilde sich ruhig wieder an eine Zeichnung gesetzt. Sie wandte nicht einmal den Kopf, sondern sagte nur: »Wie lange du fort warst! Ich dachte schon, Martine hätte sich um zehn Sous verrechnet.«
    Diese gewohnte Spöttelei über den Geiz des Dienstmädchens brachte ihn zum Lachen. Und auch er setzte sich nun ruhig an seinen Tisch. Bis zum Mittagessen sprachen sie nicht mehr. Eine große Sanftheit umfloß ihn, beruhigte ihn, seit er in ihrer Nähe war. Er wagte sie anzuschauen, er war gerührt über ihr feines Profil, den ernsten Ausdruck eines in seine Arbeit vertieften großen Mädchens. Hatte er unten im Salon einen Alptraum gehabt? Sollte er sich so leicht besiegen?
    »Ach!« sagte er lebhaft, als Martine sie rief. »Hab ich einen Hunger! Du wirst sehen, wie ich wieder zu Kräften komme!«
    Munter hatte sie seinen Arm genommen.
    »So ist˜s recht, Meister! Man muß fröhlich und stark sein!«
    Doch des Nachts in seinem Zimmer begann die tödliche Qual von neuem. Bei dem Gedanken, Clotilde zu verlieren, mußte er sein Gesicht tief ins Kopfkissen vergraben, um seine Schreie zu ersticken. Bilder waren deutlich vor ihm aufgestiegen, er hatte Clotilde in den Armen eines anderen gesehen, hatte gesehen, wie sie ihren jungfräulichen Körper einem anderen schenkte, und eine entsetzliche Eifersucht quälte ihn. Niemals würde er den Mut finden, einem solchen Opfer zuzustimmen. Alle möglichen Pläne lagen miteinander im Widerstreit in seinem armen brennenden Kopf: Clotilde von der Heirat abbringen, sie bei sich behalten, ohne daß sie jemals seine Leidenschaft ahnte; mit ihr fortgehen, von einer Stadt zur andern reisen, gemeinsam endlose Studien betreiben, so daß ihre Kameradschaft zwischen dem Meister und der Schülerin erhalten blieb; oder wenn es

Weitere Kostenlose Bücher