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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Lippen wich, und erwiderte gehorsam:
    »Wie du willst, Meister. Laß ihm sagen, er soll morgen um drei Uhr hier sein.«
    Die Nacht war so schrecklich für Pascal, daß er unter dem Vorwand eines erneuten Migräneanfalls spät aufstand. Nur unter dem eiskalten Wasser der Dusche verspürte er Erleichterung. Gegen zehn Uhr ging er aus dem Haus, um angeblich selber Ramond aufzusuchen. Aber er hatte ein anderes Ziel. Bei einer Zwischenhändlerin in Plassans hatte er ein Mieder ganz aus alter Alençonner Spitze gesehen, ein Wunderwerk, das dort schlummerte und der großmütigen Verrücktheit eines Liebhabers harrte; und mitten in seinen nächtlichen Qualen war ihm der Gedanke gekommen, es Clotilde für ihr Hochzeitskleid zu schenken. Dieser bittere Gedanke, sie zu schmücken, sie für die Hingabe ihres Körpers sehr schön zu machen und ganz in Weiß zu hüllen, rührte sein opfermüdes Herz. Sie kannte das Mieder, sie hatte es eines Tages mit ihm zusammen bewundert, aufs höchste entzückt und nur von dem Wunsch beseelt, in SaintSaturnin die heilige Jungfrau damit zu zieren, eine alte Marienfigur aus Holz, die von den Gläubigen verehrt wurde. Die Zwischenhändlerin übergab es ihm in einem kleinen Karton, den er verbergen konnte und den er beim Nachhausekommen in seinem Sekretär versteckte.
    Um drei Uhr erschien Doktor Ramond und fand in dem großen Arbeitszimmer Pascal und Clotilde vor, die ihn erwartet hatten, erregt und allzu munter, wobei sie es im übrigen vermieden, noch einmal über den Besuch zu sprechen. Man lachte und begrüßte einander mit übertriebener Herzlichkeit.
    »Sie haben sich ja wieder prächtig herausgemacht, Meister!« sagte der junge Mann. »Noch nie haben Sie so kräftig ausgesehen.«
    Pascal schüttelte den Kopf.
    »Oh, oh! Kräftig vielleicht! Aber das Herz macht nicht mehr mit.«
    Bei diesem unfreiwilligen Geständnis blickte Clotilde vom einen zum anderen, als wollte sie, durch die Macht der Umstände gezwungen, die beiden miteinander vergleichen: Ramond mit dem lächelnden, prachtvollen Kopf eines von den Frauen angebeteten schönen Arztes, mit seinem schwarzen Bart und seinem dichten schwarzen Haar strahlte im Glanz seiner männlichen Jugend; und Pascal mit seinem weißen Haar und seinem weißen Bart, diesem noch so dichten schneeigen Haarschmuck, war von tragischer Schönheit, gezeichnet von den Qualen, die er in den vergangenen sechs Monaten durchlitten hatte. Sein Schmerzensantlitz war ein wenig gealtert, nur seine großen Augen waren die eines Kindes geblieben, lebhafte und klare braune Augen. Doch in diesem Moment drückte jeder seiner Züge eine solche Milde, eine so übergroße Güte aus, daß Clotilde schließlich ihren Blick mit tiefer Zärtlichkeit auf ihm ruhen ließ. Es entstand ein Schweigen, ein leichter Schauer, der ihre Herzen durchbebte.
    »Nun, meine Kinder«, nahm Pascal tapfer wieder das Wort, »ich glaube, ihr habt miteinander zu reden … Ich habe unten zu tun und komme nachher wieder herauf.«
    Sowie sie allein waren, trat Clotilde sehr freimütig mit ausgestreckten Händen auf Ramond zu. Sie ergriff die seinen und hielt sie fest, während sie sprach.
    »Hören Sie, mein Freund, ich muß Ihnen einen großen Kummer antun … Sie dürfen mir nicht böse sein, denn ich schwöre Ihnen, daß ich sehr große Freundschaft für Sie empfinde.«
    Er hatte sogleich verstanden und war erbleicht.
    »Clotilde, ich bitte Sie, geben Sie mir keine Antwort, lassen Sie sich Zeit, wenn Sie noch überlegen wollen.«
    »Das ist unnütz, mein Freund, ich habe meinen Entschluß gefaßt.«
    Sie sah ihn an mit ihrem schönen, ehrlichen Blick; sie hatte seine Hände nicht losgelassen, damit er deutlich fühlte, daß sie nicht erregt war und es gut mit ihm meinte. Und er war es, der mit leiser Stimme fortfuhr:
    »Sie sagen also nein?«
    »Ich sage nein, und ich versichere Ihnen, daß ich sehr bekümmert darüber bin. Fragen Sie mich nichts, Sie werden später alles erfahren.«
    Er hatte sich gesetzt, überwältigt von der Erschütterung, die er nicht zeigen wollte als starker, ausgeglichener Mann, den die schwersten Leiden nicht aus dem Gleichgewicht bringen durften. Noch nie hatte ihn ein Kummer so aufgewühlt. Die Stimme versagte ihm, während Clotilde, vor ihm stehend, fortfuhr:
    »Und vor allem, mein Freund, dürfen Sie nicht glauben, daß ich mit Ihnen mein Spiel getrieben hätte … Wenn ich Ihnen Hoffnung gemacht, wenn ich Sie auf meine Antwort habe warten lassen, dann deshalb, weil ich

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