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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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kommen werde, da er immer allein sein würde. War es das beginnende Alter, das ihn vor Kälte zittern ließ? Es tauchte in der Ferne vor ihm auf wie eine düstere Landschaft, in der er all seine Energien dahinschwinden sah. Und das Bedauern, keine Frau, kein Kind zu haben, wurde nun zur Empörung, schnürte ihm mit unerträglicher Angst das Herz ab.
    Ach, warum hatte er nicht gelebt! In manchen Nächten verfluchte er sogar die Wissenschaft und klagte sie an, sie habe ihm das Beste seiner Manneskraft genommen. Er hatte sich von der Arbeit verschlingen lassen, die ihm das Hirn zerfressen, das Herz zerfressen, die Muskeln zerfressen hatte. Aus dieser ganzen einsamen Leidenschaft waren nur Bücher hervorgegangen, geschwärztes Papier, das vom Winde verweht würde, Bücher, deren kalte Blätter ihm die Hände erstarren ließen, wenn er sie aufschlug. Und keine lebendige Frauenbrust, die er hätte an sich drücken, kein Scheitel eines Kindes, den er hätte küssen können! Er hatte allein gelebt auf seiner eisigen Lagerstatt eines selbstsüchtigen Wissenschaftlers, er würde allein dort sterben. Würde er wirklich so sterben? Würde er nicht das Glück der einfachen Lastträger, der Fuhrleute, deren Peitschen unter seinen Fenstern knallten, zu kosten bekommen? Er erregte sich bei dem Gedanken, daß er sich beeilen müßte, weil bald keine Zeit mehr sein würde. Seine ganze ungenutzte Jugend, all seine zurückgedrängten, aufgespeicherten Begierden stiegen dann wie eine tobende Flut wieder in ihm empor. Und er schwor sich, noch zu lieben und noch einmal zu leben, um die Leidenschaften auszuschöpfen, die er nicht genossen hatte, von allen zu kosten, bevor er ein alter Mann war. Er würde an die Türen klopfen, er würde die Vorübergehenden anhalten, er würde die Felder und die Stadt durchstreifen. Am nächsten Morgen dann, wenn er sich gründlich gewaschen hatte und sein Zimmer verließ, legte sich das Fieber, die brennenden Bilder verblaßten, er verfiel wieder in seine natürliche Schüchternheit. In der folgenden Nacht lag er dann aus Angst vor der Einsamkeit schlaflos da, sein Blut geriet von neuem in Wallung, und ihn erfüllte dieselbe Verzweiflung, dieselbe Empörung, dasselbe Verlangen, nicht zu sterben, ohne das Weib erkannt zu haben.
    Während dieser glühenden Nächte träumte er mit weitoffenen Augen in der Dunkelheit immer wieder denselben Traum. Ein Straßenmädchen ging vorüber, ein wunderschönes Mädchen von zwanzig Jahren; sie kam herein, kniete mit einem Ausdruck demütiger Verehrung vor ihm nieder, und er heiratete sie. Es war eine jener Pilgerinnen der Liebe, wie man sie in den alten Geschichten findet, die einem Stern gefolgt war und kam, um einem sehr mächtigen, ruhmbedeckten alten König wieder Gesundheit und Kraft zu verleihen. Er war der alte König, und sie verehrte ihn, sie brachte mit ihren zwanzig Jahren das Wunder zustande, ihm von ihrer Jugend zu geben. Er ging triumphierend aus ihren Armen hervor, er hatte den Glauben, den Mut zum Leben wiedergefunden. In einer Bibel aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die er besaß und die mit naiven Holzschnitten geschmückt war, interessierte ihn vor allem ein Bild: der alte König David, der in sein Schlafgemach zurückkehrt, die Hand auf der nackten Schulter Abisags, der jungen Sunamitin. Und er las den Text auf der Seite daneben: »Der König David war alt und hochbetagt geworden. Obwohl man ihn in Decken einhüllte, konnte er nicht warm werden. Da rieten ihm seine Diener: ›Man sollte für den Herrn König ein junges Mädchen suchen, die den König bedienen und ihm als Pflegerin zur Seite sein könnte. Wenn sie dann an deinem Busen liegt, wird der Herr König schon warm werden.‹ Man suchte nun im ganzen Land Israel nach einem schönen Mädchen und fand Abisag aus Sunam und brachte sie zum König. Das Mädchen war ausnehmend schön. Sie wurde nun des Königs Pflegerin und betreute ihn …« Fror er nicht ebenso wie jener alte König und erstarrte vor Kälte, sowie er sich in seinem düsteren Zimmer allein zur Ruhe legte? Und das Straßenmädchen, die Pilgerin der Liebe, die sein Traum ihm zuführte, war das nicht die ergebene, fügsame Abisag, die leidenschaftliche Untertanin, die sich ganz ihrem Herrn hingab, einzig zu seinem Wohl? Er sah sie immer vor sich als Sklavin, deren Glück es war, in ihm aufzugehen, darauf bedacht, seinen geringsten Wunsch zu erfüllen, von so strahlender Schönheit, daß sie ihm ständig zur Freude gereichte, von

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