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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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solcher Sanftmut, daß er sich in ihrer Nähe wie in duftendem Öl gebadet fühlte. Dann wieder zogen andere Bilder an ihm vorüber, wenn er zuweilen in der alten Bibel blätterte, seine Phantasie verirrte sich in diese entschwundene Welt der Patriarchen und Könige. Welcher Glaube an die Langlebigkeit des Mannes, an seine schöpferische Kraft, an seine Allmacht über das Weib, jene ungewöhnlichen Geschichten von hundertjährigen Männern, die noch ihre Frauen schwängerten, ihre Dienerinnen in ihrem Bett empfingen und die vorübergehenden jungen Witwen und Jungfrauen zu sich nahmen! Da war der hundertjährige Abraham, der Vater Ismaels und Isaaks, der Gemahl seiner Schwester Sara, der Herr, dem seine Magd Hagar gehorsam war. Da war die köstliche Idylle von Ruth und Boas, von der jungen Witwe, die zur Zeit der Gerstenernte nach Bethlehem kam und sich in einer lauen Nacht zu den Füßen des Herrn schlafen legte, der begriff, welches Recht sie forderte, und sie als ihr Verwandter durch Verschwägerung gemäß dem Gesetz heiratete. Da war der ganze freie Drang eines starken, lebenskräftigen Volkes, dessen Werk die Welt erobern sollte, jene Männer mit der nie erlöschenden Manneskraft, jene allzeit fruchtbaren Frauen, jene beharrliche und üppige Fortpflanzung des Geschlechts durch Verbrechen, Ehebruch, Blutschande, Liebesbeziehungen ohne Rücksicht auf Alter und Vernunft. Und sein Traum nahm angesichts dieser naiven Holzschnitte schließlich Gestalt an. Abisag trat in sein düsteres Zimmer, das sie erhellte und mit balsamischem Duft erfüllte, öffnete ihre nackten Arme, ihre nackten Flanken, ihre ganze göttliche Nacktheit, um ihm ihre königliche Jugend zum Geschenk zu machen.
    Ach, die Jugend! Er hatte einen verzehrenden Hunger danach! Am Ende seines Lebens war diese leidenschaftliche Begierde nach Jugend die Auflehnung gegen das drohende Alter, ein verzweifeltes Verlangen, sein Leben zurückzudrehen, noch einmal von vorn zu beginnen. Und in diesem Wunsch, noch einmal von vorn zu beginnen, lag für ihn nicht nur der Schmerz über das verlorene erste Glück, der unschätzbare Wert der unwiederbringlichen Stunden, denen die Erinnerung ihren Reiz verleiht; es lag darin auch der unerschütterliche Wille, diesmal seine Gesundheit und seine Kraft zu nutzen, nichts von der Freude zu lieben einzubüßen. Ach, die Jugend! Wie hätte er sie in vollen Zügen genossen, wie hätte er sie noch einmal gelebt mit dem gierigen Verlangen, sie voll und ganz auszukosten, bevor er alt wurde. Er war schmerzlich erregt, als er sich noch einmal als Zwanzigjährigen sah, mit schlanker Gestalt, mit der gesunden Kraft einer jungen Eiche, mit blendend weißen Zähnen, dichtem schwarzem Haar. Mit welchem Ungestüm hätte er sie gefeiert, jene einst mißachteten Gaben, wenn ein Wunder sie ihm zurückgegeben hätte! Und die Jugend einer Frau, ein junges Mädchen, das vorüberging, verwirrte ihn, versetzte ihn in tiefe Rührung. Oft war es sogar, losgelöst von einer bestimmten Gestalt, allein das Bild der Jugend, der reine Duft und der Glanz, die von ihr ausgingen: helle Augen, gesunde Lippen, frische Wangen, ein zarter Hals vor allem, atlasweich und rund, im Nacken von Flaumhaar beschattet; und die Jugend erschien ihm stets schlank und groß, göttergleich gewachsen in ihrer ruhigen Nacktheit. Seine Blicke folgten der Erscheinung, sein Herz verlor sich in unendlichem Verlangen. Nur die Jugend war gut und begehrenswert, sie war der Glanz der Welt, die einzige Schönheit, die einzige Freude, neben der Gesundheit das einzig wahre Gut, das die Natur dem Menschen zu schenken vermochte. Ach, noch einmal von vorn beginnen, noch einmal jung sein, in einer Umarmung das ganze junge Weib zu eigen haben!
    Seit die schönen Apriltage die Obstbäume zum Blühen brachten, hatten Pascal und Clotilde ihre morgendlichen Spaziergänge durch die Souleiade wieder aufgenommen. Er machte seine ersten Ausflüge als Genesender, und sie führte ihn auf die schon brennendheiße Tenne, ging mit ihm die Wege des Pinienhaines entlang und brachte ihn zurück zur Terrasse, auf die nur die Schattenstreifen der beiden hundertjährigen Zypressen fielen. Die Sonne bleichte dort die alten Steinplatten, und unter dem strahlenden Himmel breitete sich der unendliche Horizont aus.
    Eines Morgens kehrte Clotilde nach raschem Lauf sehr angeregt ins Haus zurück, ganz von Lachen durchbebt, so fröhlich und gedankenlos, daß sie in das große Arbeitszimmer hinaufging, ohne ihren

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