Doktor Proktors Zeitbadewanne
– zwei Hasenohren, die auf und ab wippten –, dann ging das Licht aus.
Lise seufzte.
In dieser Nacht schlief Lise nicht besonders gut. Meist lag sie wach und dachte über viel zu dunkle Keller, viel zu haarige peruanische Spinnen, viel zu große Großstädte und all die vielen Dinge nach, die todsicher schiefgehen würden.
Unterdessen lag Bulle auf der anderen Seite der Straße im tiefsten, glücklichsten Schlaf und träumte davon, auf selbst gepupsten Luftsäulen hoch in die Luft zu fliegen, Geheimcodes zu lösen, geniale Professoren zu retten und lauter andere Dinge zu tun, die todsicher – oder jedenfalls ziemlich sicher – gut gehen würden. Am meisten aber träumte er davon, auf der Bühne der Roten Mühle in Paris Cancan zu tanzen, bis das begeisterte Publikum und alle anderen Tänzerinnen in Applaus und Hurrarufe ausbrechen würden: »Bul-le! Bul-le! Bul-le!«
3 . Kapite l
Langfrakks Uhrenladen
rau Strobes Blick wanderte suchend über ihre ungewöhnlich lange Nase hinaus, drang durch die ungewöhnlich dicken Gläser der Brille, die ganz vorn auf der Nasenspitze saß, beäugte die kleinen Menschen vor ihr dort im Klassenzimmer und bohrte sich schließlich in den kleinsten von allen:
»Herr Bulle!« Ihre Stimme knallte wie ein Peitschenhieb.
»Frau Strobe!«, knallte der Winzling zurück. »Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein an diesem ungewöhnlich schönen Freitagmorgen, einem Morgen, dessen Schönheit nur übertroffen wird von Ihrem, meiner Lehrerin und geistigen Führerin, erquicklichen Anblick?«
Wie immer, wenn Bulle etwas sagte, war Frau Strobe verwirrt. Verwirrt, weil sie sich auf einmal so lachlustig fühlte. Und sogar ein klein wenig geschmeichelt.
»Erstens hör auf, diese idiotische Melodie zu pfeifen . . .«, sagte sie. »Nicht so laut, Frau Strobe!«, flüsterte Bulle mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. »Das ist die Marseillaise. Wenn jemand von der französischen Botschaft hört, dass Sie deren Nationalhymne idiotisch nennen, dann berichten die das dem Präsidenten und der erklärt sofort Norwegen den Krieg. Die Franzosen lieben es, Krieg zu führen, auch wenn sie darin nicht so besonders gut sind. Haben sie zum Beispiel schon mal vom Hundertjährigen Krieg Frankreich gegen England gehört?«
Die ganze Klasse lachte, während Frau Strobe mit den Fingernägeln aufs Katheder klopfte und den merkwürdigen kleinen Jungen musterte, der seit dem Frühling in ihrer Klasse war.
»Wenn du aufgepasst hättest, statt zu pfeifen, hättest du mitbekommen, dass ich gerade über den Hundertjährigen Krieg rede, Herr Bulle. Was habe ich soeben über Jeanne d’Arc erzählt?«
»Jeanne d’Arc?«, wiederholte Bulle und kratzte sich nachdenklich die linke seiner Koteletten. »Hm. Klingt bekannt. Eine Dame, nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Berühmte Cancan-Tänzerin?«
»Herr Bulle!«
»Okay, okay. Wie oft kann ich noch raten?«
Frau Strobe seufzte. »Jeanne d’Arc war ein frommes, armes Mädchen aus einem Dorf in Frankreich. Schon als junges Mädchen erhielt sie den geheimnisvollen Auftrag, den französischen Kronprinzen zu suchen, der sich irgendwo im Lande versteckt hielt, und ihm zu helfen.«
»Klingt sehr bekannt«, sagte Bulle. »Den Auftrag hat sie nicht vielleicht mittels einer Postkarte bekommen, frankiert mit einer seltenen Briefmarke aus dem Jahr 1888?«
»Was redest du? Jeanne d’Arc bekam ihn von Engeln, die in ihrem Kopf sprachen!«
»Tut mir leid, Frau Strobe, nur eine Fehlschaltung in meinem winzigen, aber dennoch komplexen Gehirn.«
Bulle schielte zu Lise hinüber, die den Kopf aufs Pult und die Hände auf den Kopf gelegt hatte.
»Soll nicht wieder vorkommen, Frau Strobe«, sagte Bulle. »Wie ging das weiter mit dieser Madame?«
Frau Strobe beugte sich über ihr Katheder.
»Genau da war ich gerade. Jeanne d’Arc fand den Kronprinzen und sie kämpften gemeinsam gegen die Engländer. Das junge Mädchen zog eine Rüstung an, lernte, mit dem Schwert zu kämpfen wie ein Meister, und führte die französischen Truppen in die Schlacht. Heute wird sie in ganz Frankreich als Nationalheldin verehrt. Schreibt das auf!«
»Herrlich!«, rief Bulle. »Das gute Mädchen hat gewonnen. Ich liebe Geschichten mit glücklichem Ende!«
Frau Strobe senkte die lange Nase, bis sie fast das Katheder berührte, und schaute die Klasse über den Rand ihrer Brille hinweg an.
»Nun ja, ein glückliches Ende, wie man’s nimmt...Sie wurde gefangen genommen und an die Engländer verkauft,
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