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Doktor Proktors Zeitbadewanne

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Titel: Doktor Proktors Zeitbadewanne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Waggons. Auch auf den Tragflächen war niemand. Weder auf der rechten noch auf der linken Seite. Hätte ja gerade noch gefehlt. Allerdings sollte das Flugzeug erst in ein paar Minuten starten.
    Lise schaute sich die Bilder im Sicherheitsfaltblatt an. Es zeigte Menschen, die auf einer aufblasbaren Rutsche das Flugzeug verließen und richtig viel Spaß dabei zu haben schienen. Sie gähnte. Dieser Tag war schon viel zu aufregend gewesen und in der Nacht zuvor hatte sie kaum schlafen können. Sie schloss die Augen und schon begannen die Worte der unheimlichen Frau aus dem Uhrenladen in ihrem Kopf zu kreisen:
    »Nur der Tod kann die Geschichte neu schreiben. Nur wenn du bereit bist zu sterben, kannst du die Schrift verändern.«
    Darüber schlief Lise ein und merkte gar nicht, wie das Flugzeug startete, wie der Boden unter ihnen wegsackte, Oslo immer kleiner wurde und schließlich verschwand. Dann verschwand auch das Festland und sie flogen übers Meer. Als wieder Land in Sicht kam, waren es Länder namens Deutschland und Holland und Belgien. Und als sie endlich zum Landeanflug auf Paris ansetzten, wurde Lise von der Durchsage des Kapitäns geweckt, der sagte, dass die Passagiere sich wieder anschnallen sollten. Unterdessen war es dunkel geworden und Tausende Lichter funkelten unter ihnen. Lise wusste, dass da unten mehrere Millionen Menschen lebten. Und sie war nur ein einziger Mensch, ein einziges kleines Mädchen aus der Kanonenstraße. Auf einmal fühlte Lise sich furchtbar allein und musste sich in die Unterlippe beißen, damit sie aufhörte zu zittern.
    Als sie auf einem Flugplatz gelandet waren, der nach irgendeinem längst verstorbenen Präsidenten mit Vornamen Charles benannt war, holte die Stewardess die Schulranzen wieder aus dem Gepäckfach, tätschelte Lise tröstend die Wange und wünschte ihr mit Zwitscherstimme einen schönen Abend in Paris. Lise wanderte durch lange Korridore, fuhr mit langen Rolltreppen, wartete in langen Schlangen vor der Passkontrolle, wechselte ihre restlichen norwegischen Kronen in Euro um und war restlos erschöpft, als sie endlich draußen vor dem Gebäude die Ranzen auf den Rücksitz eines Taxis lud und selbst hinterherkrabbelte.
    »Uh allehwuh?«, fragte der Taxifahrer.
    Nun verstand Lise zwar kein Wort Französisch, war sich aber sicher, dass die erste Frage eines Taxifahrers ihrem Ziel galt. Bedauerlicherweise hatte sie in all der Ver- wirrung den Namen der Pension schlicht und einfach vergessen. Sie wusste nur noch, dass er irgendetwas mit Kartoffeln zu tun hatte.
    »Pension Kartoffel«, sagte sie versuchsweise und drückte die Ranzen an sich.
    »Kesske vuhsaweh dih?«, fragte der Fahrer und sah sie im Spiegel an.
    »Äh...« Lise dachte nach. »Pellkartoffel?«
    Der Fahrer drehte sich zu ihr um und fragte nochmals: »Uh?«, jetzt aber lauter und mit deutlicher Verärgerung in der Stimme.
    In Lises Kopf, wo sonst alles immer schön an Ort und Stelle lag, herrschte nur noch Chaos. »Linda? Adretta?«, versuchte sie es noch einmal, spürte aber schon die Tränen aufsteigen.
    Der Fahrer schüttelte den Kopf.
    »Pension Kartoffelbrei?«
    Jetzt spuckte der Fahrer eine Reihe rasend schneller Wörter aus, die ganz gewiss mit französischer Höflichkeit nicht viel zu tun hatten. Dann griff er nach der Hintertür neben Lise, stieß sie auf, zeigte auf die Straße und rief: »Out!«
    »Pomm Fritt!«
    Der Fahrer erstarrte und schielte sie an. Wahrscheinlich war er verwirrt, weil die Stimme, die hier eben »Pomm Fritt«, gesagt hatte, absolut nicht so klang wie die des kleinen Mädchens. Außerdem schien sie nicht aus ihrem Mund zu kommen, sondern aus einem der Schulranzen, die sie fest an sich drückte.
    »Ah!« Endlich schien der Fahrer zu begreifen. »Pension Pomm Fritt?«
    Lise nickte schnell und eifrig.
    Mit einem Grunzen zog der Fahrer die Tür wieder zu, ließ den Motor an und fuhr los.
    Lise lehnte sich zurück und atmete erleichtert auf.
    Neben sich hörte sie ein verstohlenes Flüstern: »Pssst! Lässt du mich jetzt vielleicht mal raus?«
    Lise öffnete die Vorderklappe des einen Ranzens. Und heraus sprang ein winzig kleiner Junge mit dicken Sommersprossen und roter Elvis-Tolle.
    »Oh, herrlicher Duft der Freiheit, wie lieb und teuer bist du meinem Herzen«, sagte Bulle und setzte sich neben Lise, die Hände zufrieden hinterm Kopf gefaltet. Lise stellte fest, dass ihr bester Freund ein wenig zerknautscht aussah, sonst aber bestens in Form zu sein schien. »Na, liebste Lise, hast

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