Dokument1
und wolle deshalb zu Darnell fahren, um an Christine zu arbeiten.
Regina protestierte - obwohl sie es ihm nicht ins Gesicht sagte, dachte sie, daß Arnie aussah wie eine aufgewärmte Leiche. Sein Gesicht war frei von Pusteln und Pickeln, dafür waren andere Alarmzeichen aufgetaucht: Er war viel zu blaß, und er hatte dunkle Ringe um die Augen, als habe er seit Wochen nicht geschlafen. Und dazu noch das Hinken. Sie fragte sich besorgt, ob ihr Sohn irgendwelche Drogen nahm, ob der Rücken viel schlimmer verletzt sei, als er zugeben wollte, und er gegen die Schmerzen Betäubungsmittel nehme, damit er an diesem gottverfluchten Wagen weiterarbeiten konnte. Sie verwarf diesen Gedanken sofort. Er mochte zwar von diesem Wagen besessen sein, aber so verrückt war Arnie nicht.
»Mir geht es wirklich schon besser, Mom«, sagte Arnie.
»Aber du siehst elend aus. Und du hast das Abendessen kaum angerührt.«
»Ich werde später was essen.«
»Wie geht es deinem Rücken? Daß du mir keine schweren Sachen hebst, hörst du?«
»Nein, Mom.« Das war eine Lüge. Sein Rücken hatte den ganzen Tag über schrecklich weh getan. So schlimm war es seit Philly Plains nicht mehr gewesen (oh, war es dort gewesen, wo die Schmerzen begonnen hatten? flüsterte eine Stimme in seinem Gehirnstübchen. Tatsächlich? Bist du ganz sicher?). Er hatte versucht, ohne Stützverband auszukommen, doch kaum hatte er das Klebeband abgewickelt, als sein Rücken so heftig schmerzte, daß er es kaum aushallen konnte. Eine Viertelstunde später legte er einen neuen Klebeverband an und zog ihn strammer als zuvor. Und jetzt hatten die Schmerzen in seinem Rücken tatsächlich nachgelassen. Er wußte auch, warum. Er ging zu ihr. Das war der Grund.
Regina betrachtete ihren Sohn mit einer Mischung aus Ratlo-sigkeit und Sorge. Zum erstenmal in ihrem Leben wußte sie nicht, wie es weitergehen sollte. Arnie war ihrer Kontrolle entglitten. Diese Erkenntnis löste ein schreckliches Gefühl der Verzweiflung in ihr aus, das sie zuweilen überschwemmte und in ihrem Verstand eine grauenhafte Leere hinterließ. Dann verfiel sie in eine tiefe Depression, war ihr so total ausgeliefert, daß sie sich kaum noch selbst wiedererkannte, und sie fragte sich dann, ob sie bisher dafür gelebt hatte - daß sich ihr Sohn in diesem schrecklichen Herbst gleichzeitig in ein Mädchen und einen Wagen verlieben konnte? War das der Sinn ihres Daseins, daß sie an seinen grauen Augen ablesen konnte, wie verhaßt er ihr in wenigen Monaten geworden war? War es das?
Und mit dem Mädchen hatte es gar nichts zu tun, nicht wahr?
Nein. Es war nur der Wagen. Sie fand kaum noch Ruhe, und zum erstenmal seit der Fehlgeburt vor fast zwanzig Jahren erwog sie, einen Tennin bei Dr. Mascia zu machen und ihn um ein paar Pillen gegen Streß, Depressionen und Schlaflosigkeit zu bitten. In den langen schlaflosen Nachtstunden dachte sie über Arnie nach und ihre Fehler, die nicht mehr gutzumachen waren. Sie überlegte, auf was für eine heimtückische Art die Zeit das Gleichgewicht der Kräfte verschoben hatte und wie das Alter ihr manchmal aus dem Spiegel ihrer Frisierkommode entgegensah, der Hand eines Skeletts vergleichbar, die plötzlich aus der verwitternden Erde hervorlugt.
»Kommst du früh nach Hause?« fragte sie, obwohl sie wußte, daß diese Frage typisch für in Wahrheit ohnmächtige Eltern war, und sie haßte es, konnte aber jetzt nichts mehr dagegen tun.
»Klar«, sagte er, aber in einem Ton, der eher das Gegenteil versprach.
»Arnie, ich wünschte, du würdest zu Hause bleiben. Du siehst wirklich nicht gesund aus.«
»Es wird schon gehen«, erwiderte er. »Ich muß morgen für Will ein paar Ersatzteile nach Jamesburg bringen.«
»Das kannst du nicht, wenn du krank bist«, sagte sie. »Das sind fast hundertfünfzig Meilen.«
»Das macht mir nichts.« Er küßte sie auf die Wange - der flüchtige Wangenkuß einer Cocktail-Party-Bekanntschaft.
Er hatte die Klinke der Hoftür schon in der Hand, als Regina fragte: »Kanntest du eigentlich den Jungen, der heute nacht auf dem Kennedy Drive überfahren wurde?«
Er drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht zu ihr um:
»Was?«
»In der Zeitung stand, es war ein Junge aus Libertyville.«
»Oh, die Fahrerflucht…«
»Ja.«
»Ich hatte im ersten Jahr einen Kurs mit ihm«, sagte Arnie.
»Aber eigentlich kenne ich ihn nicht, Mom.«
»Oh.« Sie nickte erfreut. »Das ist gut. In der Zeitung steht, sie hätten Spuren von Drogen in seinem Körper
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