Dolce Vita, süßer Tod: Kriminalroman (Inspektor Stucky) (German Edition)
am nächsten Morgen sind sie wieder da, in ungefähr der gleichen Zahl wie am Tag davor.
Wir haben gelernt, mit den Möwen zu leben. Ich trällere ein Liedchen vor mich hin und versuche, sie zu ignorieren, wenn sie sich auf die vom Kompaktor hinterlassenen Spuren stürzen und das fein zerstampfte Futter verschlingen. Es genügt, wenn sich unsere Blicke kreuzen.
Die Arbeit in der Deponie lässt mir sehr wenig freie Zeit. Aber ich glaube auch nicht, dass ich diese Arbeit ewig machen werde. Die Lebensdauer einer Deponie beträgt etwa fünfzehn Jahre. Mit dem verdienten Geld möchte ich mich dann in Kenia oder in Brasilien niederlassen. Ich habe einen Haufen Verwandte in São Paulo, denen es offensichtlich hervorragend geht. Ich könnte ein Restaurant aufmachen. In Kenia … na ja, ich weiß nicht recht. Ich mag halt die schwarzen Frauen, das ist alles. Ich mag die schwarzen Mädchen, weil sie so pflegeleicht sind wie die Frauen früher bei uns. Du brauchst nicht immer darüber nachzudenken, was für ein Geschenk du ihnen machen sollst, worüber du mit ihnen reden oder was du anziehen sollst, wenn du mit ihnen ausgehst. Wenn ich mit schwarzen Mädchen gehe, ist alles einfach und schön. Keine Komplikationen. Ein Stündchen am Samstagabend, und alles ist okay.
Die Frauen sind im Laufe der Jahre kompliziert geworden. Das sehe ich an Antonietta, und auch die Mamma ist letzten Endes jemand, der seine eigenen Vorstellungen hat und diese anderen aufzwingen will. Die Nonna, nein, die nicht, die Nonna, die ist aus einem Guss. Für sie ist das Leben klar und gradlinig. Wenn sie nicht das Unglück mit dem Kehlkopfkrebs gehabt hätte, wäre sie die Beste. Auch Papà hat sie vergöttert. Nicht zufällig war sie seine Mutter. Meine eigene hab ich, wenn ich ehrlich sein soll, immer als eingeheiratete Verwandte angesehen, als eine, die wir in die Familie hereingeholt haben, als eine, die nicht von unserem Blut ist, von meinem Blut und vom Blut meines Vaters, meiner Großmutter und von Ginos und Antoniettas Blut. Zum Glück hat sie wenigstens gearbeitet.
Bis das mit dem Unfall passiert ist. Bei dem sie beinahe beide Beine verloren hätte. Tausendmal hatte ich es ihr eingeschärft: Wenn du das Gewicht der ankommenden Lastwagen erfasst, warte, bevor du in dein Büro gehst, um ihnen die Quittung auszustellen, warte ab, bis der Lastwagen weitergefahren ist.
Du meine Güte! Die Mamma brauchte doch nichts anderes zu machen: die Lastwagen auf die Waage winken, aufpassen, dass sie richtig dastanden, in den Waageraum gehen und den Zettel mit dem Messergebnis holen, mit diesem Zettel in ihr Büro, auf der anderen Seite der Straße, gehen, und die Quittung fertig machen, auf der der Betrag steht, den die Leute für die Entladung ihrer Abfälle bezahlen müssen. Mir ist klar, dass das nicht passiert wäre, wenn wir ein Büro mit einer richtigen eingebauten Apparatur gehabt hätten, die das Gewicht direkt angezeigt hätte. Die Mamma hätte sich dann überhaupt nicht von ihrem Arbeitsplatz entfernen müssen. Aber ich hatte geglaubt, dass sie sich dann isolierter fühlen würde, dass es ihr guttäte, wenn sie die paar Schritte von der Waage bis zum Büro machen müsste. Außerdem haben wir die Waage aus zweiter Hand gekauft, und man hätte sie gar nicht entsprechend umrüsten können. Die einzige Gefahr bei ihrer Aufgabe bestand dann, wenn die Fahrzeuge sich in Bewegung setzten. Da alle in einer Reihe stehen und darauf warten, gewogen zu werden, fährt der Vorderste, sobald er gewogen wird, los, um dem Nachfolgenden Platz zu machen. Die Mamma musste bloß achtgeben, dass sie in ihr Büro lief, solange der Lkw noch stand oder, besser, ihn wegfahren lassen und sich erst danach auf den Weg machen. Doch sie hatte die schlechte Angewohnheit, genau dann vorn an den Fahrzeugen vorbeizulaufen, wenn die Leute gerade den Motor anließen. Die machten brumm, brumm, und sie rannte zack, zack! So hat sie einer aus Bergamo, ein Brummifahrer mit so einer Kappe mit einem Schild, das an die Terrasse eines Viersternehotels erinnerte, überrollt und ihr die Beine zu Brei zerquetscht.«
13. D EZEMBER
Die weiße Bluse mit etwas zugespitztem Kragen hing am Türgriff des Geschäfts für Brautmoden. Die Verkäuferin war entsprechend beunruhigt.
Stucky, der kerzengerade dastand, die Zeitungen unter den Arm geklemmt, plagten zwei Fragen: Was würde auf der ersten Seite stehen, und was hatte die Schepis zwei Tage zuvor angehabt?
Es könnte sich um einen dummen Scherz
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