Dolch und Münze (01): Das Drachenschwert (German Edition)
sie an der Schulter und zog sie auf die Beine. Ihre Lippen waren blaugefroren.
»Yardem?«
»Hier, Herr«, sagte der Tralgu an der Seite des Karrens.
»Fang«, rief Marcus und gab ihr einen Schubs in seine Richtung. Als sie fiel, schrie das Mädchen auf, und dann hatte Yardem sie im Schwitzkasten. Ihre Schreie waren wild, und Yardem grunzte einmal, als sie einen Glückstreffer landete. Marcus achtete nicht auf den Kampf. Die Wolle war feucht und stank nach Schimmel. Er hob Ballen um Ballen hoch, die er dann auf den Boden fallen ließ. Die Schreie des Mädchens wurden schriller und verstummten dann. Marcus’ Hand war auf etwas Hartes gestoßen.
»Reicht mir eine Fackel«, rief er.
Meister Kit kletterte stattdessen zu ihm nach oben. Das Gesicht des alten Mannes war ausdruckslos. Im Fackellicht zog Marcus die Kiste heraus. Schwarzholz mit einem Eisenschloss und harten Lederscharnieren. Marcus zog seinen Dolch und schlug auf die Scharniere ein, bis genug Platz war, dass er die Klinge zwischen Deckel und Kiste schieben konnte.
»Seid vorsichtig«, empfahl Meister Kit, als Marcus sein Gewicht auf das Messer stützte.
»Dafür ist es zu spät«, sagte Marcus, und das Schloss gab mit einem Knacken nach. Der Kistendeckel hing herab, schlaff und zerbrochen. Darin glitzerten und glänzten tausend geschliffene Glasstücke. Nein. Kein Glas. Edelsteine. Granate und Rubine, Smaragde, Diamanten und Perlen. Die Kiste war bis zum Rand damit gefüllt. Marcus spähte in das Loch hinab, das zwischen Wolle und Schnee zurückgeblieben war. Es gab weitere ähnliche Kisten. Dutzende davon.
Er blickte zu Meister Kit. Die Augen des Alten waren vor Erstaunen geweitet.
»Alles klar«, sagte Marcus knapp und ließ die Kiste zufallen. »Kommt mit.«
Auf dem Boden hatten sich die übrigen Wachen um Yardem und das Mädchen geschart. Yardem hielt das Mädchen noch immer in den breiten Armen, bereit, sie zu würgen, bis sie ohnmächtig wurde. Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Ihr Kinn war trotzig und traurig vorgereckt. Marcus riss ihr ein Stück Schnurrbart von der Wange, knüllte es zwischen den Fingern zusammen und ließ es zu Boden fallen. Neben dem mächtigen Tralgu schien sie kaum mehr als ein Kind zu sein. Ihr Blick begegnete dem von Marcus, und er sah das Flehen, das darin lag. Etwas Gefährliches regte sich in seiner Brust. Nicht Wut, nicht Empörung. Nicht einmal Bedauern. Eine Erinnerung, die so lebendig war, dass sie schmerzte. Er zwang sich dazu, sich abzuwenden.
»Bitte«, sagte das Mädchen.
»Kit«, befahl er. »Bringt sie nach drinnen. In unsere Unterkünfte. Sie sagt zu keinem ein Wort, nicht einmal zum Karawanenmeister.«
»Wie Ihr befehlt, Hauptmann«, erwiderte Meister Kit. Yardem lockerte seinen Griff und trat einen halben Schritt zurück. Seine Augen waren auf das Mädchen gerichtet; er war bereit, sie wieder außer Gefecht zu setzen, wenn sie angriff. Meister Kit streckte ihr eine Hand hin. »Komm mit, meine Liebe. Du bist unter Freunden.«
Das Mädchen zögerte. Ihr Blick zuckte von Marcus zu Meister Kit und wieder zurück. Tränen standen in ihren Augen, aber sie schluchzte nicht. Er hatte einst ein anderes Mädchen gekannt, das auf diese Weise geweint hatte. Marcus schob den Gedanken zur Seite. Meister Kit führte sie fort. Die anderen folgten wie aus Gewohnheit dem Meisterschauspieler und ließen die Soldaten allein zurück.
»Der Karren«, sagte Marcus.
»Niemand wird in seine Nähe gelangen, Herr«, erwiderte Yardem.
Marcus blinzelte in den fallenden Schnee hinauf. »Wie alt ist sie deiner Ansicht nach?«
»Sie ist zum Teil Cinnae. Dadurch wird es schwer zu beurteilen«, grollte Yardem. »Sechzehn Sommer. Siebzehn.«
»Das habe ich auch gedacht.«
»Genauso alt wie Merian heute wäre.«
»Ungefähr.«
Marcus wandte sich wieder zur Felswand. Licht schimmerte in den Fenstern im Stein, und die uralten, mit Schnee verkrusteten Schriftzeichen, die in den Hang darüber gemeißelt waren, leuchteten tiefgrau auf der schwarzen Fläche.
»Herr?«
Marcus drehte sich wieder um. Der Tralgu saß bereits auf dem Kutschbock des Wagens und schlang sich etwas von dem Wollstoff auf die Art der Pût-Nomaden um, damit sein Körper warm blieb und er den Schwertarm frei hatte.
»Was in Ellis passiert ist, sollte bei Eurem Urteil keine Rolle spielen. Sie ist nicht Eure Tochter.«
Unruhig regten sich Gefühle in Marcus’ Brust, wie ein Säugling, der im Schlaf gestört wird.
»Niemand ist das«, sagte er und ging
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