Dolly - 01 - Dolly sucht eine Freundin
strahlte die Klasse an. “So, meine lieben Mädchen”, sagte sie, “heute werden wir sehr, sehr gut Französisch arbeiten, n’est-ce pas – nicht wahr? Wir wollen es besser schaffen als die zweite Klasse. Sogar Evelyn wird mir ihre Verben ohne einen einzigen Fehler aufsagen.”
Evelyn blickte mißtrauisch drein. Seit sie in Möwenfels war, hatte ihre gute Meinung über ihren Privatunterricht daheim stark nachgelassen. Fräulein Winter schien sie nicht die Hälfte der Sachen gelehrt zu haben, die sie hätte wissen müssen! Andererseits, dachte Evelyn, hatte sie ihr Haar und ihre blauen Augen bewundert, ihren sanften Charakter und ihre Anmut gelobt. Das hatte Evelyn immer gern gehört. Aber hier nun hatte Mademoiselle die Hände zusammengeschlagen, wie wenig Evelyn in Französisch wußte, und ihr Nachhilfestunden angeraten. Bis jetzt hatte Evelyn diese Sonderstunden vermeiden können, und sie war fest entschlossen, es auch weiterhin zu tun. Fünfmal in der Woche Französisch war schon ohne Extrastunden mehr als genug. Sie lächelte Mademoiselle also ziemlich zweifelnd an und hoffte nur, daß Alice bald mit ihrer Vorstellung anfing, damit Mademoiselles Aufmerksamkeit von ihr abgelenkt würde.
Mademoiselle sah wieder strahlend um sich. Sie fand, daß die Mädchen an diesem Morgen besonders eifrig wirkten. Sie würde ihnen von ihrem kleinen Neffen berichten, das gefiel ihnen gewiß. Mademoiselle konnte es niemals lassen, von ihrer geliebten Familie in Frankreich zu erzählen. Gewöhnlich ermutigten die Mädchen sie dazu. Denn je mehr sie über die liebe Josephine und die reizende Yvette redete, desto weniger bekamen sie über unregelmäßige Verben zu hören. Deshalb waren sie begeistert, als Mademoiselle nun von dem kleinen Neffen anfing.
“ Il est appelé Charles – er heißt Charles. Il est tout petit – er ist ganz klein!” Mademoiselle zeigte ihnen, wie winzig ihr neuer Neffe war.
Alice saß da mit dem Ausdruck angestrengtester Aufmerksamkeit, und sie lehnte sich so weit wie möglich über ihr Pult nach vorn. Die eine Hand hatte sie hinter dem rechten Ohr.
Mademoiselle fiel das auf. “Sag einmal, Alice, kannst du mich nicht gut verstehen? Il est taut petit. Wiederhole das bitte!”
“Pardon?” fragte Alice höflich und legte auch die linke Hand ans Ohr.
Dolly mußte bereits kichern, versuchte aber ein ernstes Gesicht aufzusetzen.
“Alice, kannst du nicht hören?” rief Mademoiselle.
“Ich kann mich beschweren? Warum sollte ich denn. Mademoiselle?” fragte Alice und guckte ganz erstaunt drein.
Irgend jemand gluckste und unterdrückte es schnell. “Mademoiselle hat gefragt: Kannst du nicht hören?” wiederholte Betty laut.
“Was ist mit Möhren?” Alice schien noch verwunderter als vorher.
“Kannst du nicht hören?” schrie Dolly.
“Kannst du nicht hören?” rief jetzt schon die ganze Klasse. Mademoiselle schlug auf ihr Pult. “Mädchen, benehmt euch! Wie könnt ihr solchen Lärm machen?”
“Mademoiselle. vielleicht ist Alice plötzlich schwerhörig geworden?” warf Dolly so laut ein, als wäre Mademoiselle ebenfalls taub. “Womöglich hat sie etwas Schlimmes an den Ohren.”
“Ach, die arme Kleine,” rief Mademoiselle. die selbst manchmal unter Ohrenschmerzen zu leiden hatte und deshalb Mitleid mit jedem empfand. der auch darüber klagte. Sie rief Alice laut zu: “Schmerzen deine Ohren stark?”
“Schon wieder Quark? Heute zum Abendbrot?” antwortete Alice. “Aber wir hatten doch erst gestern welchen!”
Für Irene war das zuviel Sie brach in lautes Gelächter aus, Und die Mädchen vor ihr platzten ebenfalls los.
“Tiens!” rief Mademoiselle und sprang auf. “Was ist denn? Irene, was machst du für einen fürchterlichen Lärm? Ich dulde das nicht!”
“Ich muß manchmal niesen, Mademoiselle”, stotterte Irene und vergrub ihre Nase im Taschentuch. Merkwürdige Geräusche ertönten hinter dem Tuch, die mehr nach Kichern als nach Niesen klangen.
“Alice”, sagte Mademoiselle zu der Unfugstifterin, die sofort wieder beide Hände hinter die Ohren legte und die Stirne krauste, als ob sie mit allen Mitteln zu hören versuchte. “Alice, Quark ist, was du redest. Du scheinst dich wohl erkältet zu haben?”
Die Klasse gluckste vor Vergnügen über Alices “Schwerhörigkeit”
“Knaben? In Möwenfels gibt es doch gar keinen Jungen”, antwortete Alice zu Mademoiselles immer größerer Verwunderung. “Es hat keinen Zweck, daß das arme Kind versucht, dem Unterricht zu folgen”,
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