Dolly - 02 - Wirbel in Klasse 2
erzählt?” fragte Diana.
“Sie machte sich kurz vor fünf auf den Weg, um dein Päckchen zum Postamt zu bringen”, fuhr Evelyn fort, ohne Dianas Frage zu beantworten. “Sie wollte die Küstenstraße entlanggehen. Ob ihr was passiert ist?”
Diana begann langsam zu begreifen. “Mein Päckchen zur Post? Um diese Zeit und bei der Dunkelheit? Wozu? Die Post ist doch längst geschlossen!”
“Daran haben wir beide nicht gedacht. Sie bestand darauf, dir diesen Freundschaftsdienst zu erweisen.”
“Und du hast sie nicht zurückgehalten, du Schaf?”
“Im habe es ja versucht”, sagte Evelyn. “Ich erzählte ihr sogar, daß sie gar nicht deine Freundin sei – daß du sie nur für deine Französisch-Arbeiten brauchst, wie du mir ja oft gesagt hast.
Selbst das hat sie nicht davon abgehalten, mit diesem dummen Päckchen in Wind und Wetter hinauszulaufen.”
“Obwohl du es ihr gesagt hast, ist sie gegangen?” sagte Diana mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. In ihren Augen glitzerten Tränen.
Evelyn sah es mit Verblüffung. Diana hatte noch niemals geweint! “Was hast du?” fragte Evelyn.
“Nichts, was du verstehen könntest” entgegnete Diana und wischte sich mit einer raschen Bewegung die Tränen aus den Augen. Du gütiger Himmel! Sich vorzustellen, daß Marlies in dieser Stockfinsternis und bei Sturm über die Küstenstraße lief, um das Päckchen zur Post zu bringen! Wo mochte sie jetzt sein?
“Du glaubst doch nicht, daß sie der Sturm über die Klippe geweht hat?” fragte Evelyn.
Diana wurde kreidebleich. “Nein – nein, sag doch so was nicht!” rief sie. “Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich das für mich wäre! Ich könnte es mir nie verzeihen!”
“Wieso? Es wäre doch nicht deine Schuld.” Evelyn war von diesem Gefühlsausbruch ganz überrascht.
“Es wäre meine Schuld – ganz allein meine Schuld. Aber das kannst du nicht verstehen!” rief Diana verzweifelt aus. “Die freundliche kleine Marlies! Und du hast sie mit dem Gedanken in den Sturm hinausgehen lassen, daß ich mir nichts aus ihr mache, sondern sie nur ausnutze. Ich kann sie sehr gut leiden – zehnmal mehr als dich! Sie ist gutmütig und selbstlos. Ich habe sie zuerst tatsächlich nur geduldet, weil sie mir in Französisch half. Aber jetzt bin ich stolz darauf, daß sie meine Freundin ist. Sie gibt alles und fordert nichts, so uneigennützig ist sie!”
“Aber du hast mir doch selber immer wieder versichert, du wärst gar nicht mit ihr befreundet!”
“Ja, ich war gemein!” sagte Diana. “Ich habe es nur gesagt, um mir nicht ständig deine eifersüchtigen Nörgeleien anhören zu müssen. Ach, ich werde niemals darüber hinwegkommen, wenn ihr etwas passiert ist! Ich will versuchen, sie zu finden.”
“Du kannst nicht hinaus!” schrie Evelyn voll Entsetzen. “Der Sturm heult immer stärker, hör nur!”
“Wenn Marlies wegen meines dummen Päckchens hinausgeht, kann ich es wohl auch tun, um sie zu suchen.”
Ehe Evelyn noch etwas sagen konnte, schoß Diana schon wie ein Wirbelwind davon. Ihr Gesicht zeigte einen entschlossenen Ausdruck, wie man ihn bei Diana bisher noch nicht gesehen hatte. Sie stürmte in den Schlafsaal hinauf, zog sich ihren Wettermantel und die Gummischuhe an, nahm eine Taschenlampe an sich und schlich unbemerkt in die Dunkelheit hinaus.
Es war eine rauhe Nacht. Der starke Wind nahm ihr den Atem. Mühsam erkämpfte sie sich den Weg zur Küstenstraße. Dort oben über den Klippen würde der Sturm erst richtig toben und sie womöglich über die Klippen ins Meer wehen!
Als sie dicht an die Steilküste herangekommen war, begann sie zu rufen: “Marlies! Marlies! Marlies, wo bist du?”
Der Sturm riß ihr die Worte vom Munde und trug sie in die Finsternis hinaus. Sie rief wieder und wieder, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt: “Marlies! Marlies!”
Und plötzlich hörte sie ganz von Ferne einen schwachen Ruf: “Hier! Hier! Hilfe!”
Eine Heldin!
Diana stand ganz still und lauschte. Wieder trug der Wind den schwachen Ruf heran: “Hier! Hier!”
Die Stimme kam von den Klippen her, und zwar von dort, wo die Steilküste buchtartig zurücktrat. Vorsichtig, um nicht hinuntergeweht zu werden, und die Finger in die regennassen Grasbüschel krallend, kroch Diana an die Klippen heran. Als sie am Rand der Steilküste angelangt war, ließ sie ihre Taschenlampe aufleuchten und spähte hinunter. Nur wenige Meter unter ihr hing Marlies an einem Felsvorsprung. Mit der Verzweiflung eines Menschen,
Weitere Kostenlose Bücher