Dolly - 04 - Dolly, die Klassensprecherin
und sah sich an der Abendtafel um. Niemand wußte es.
Nun klärte Mademoiselle, die recht feierlich aussah, sie auf.
„Die arme Evelyn! Sie ist mit nach Hause genommen worden, weil ihr Herz so krank ist“, sagte Mademoiselle. „Ob ihr es glaubt oder nicht, als ich ihrer Mutter davon erzählte, sagte sie, daß das liebe tapfere Kind sich nicht ein bißchen bei ihr beklagt habe, nicht mit einem einzigen Wort. Wahrhaftig, man muß das Mädchen bewundern!“
Die anderen gerieten durch diese überraschende Nachricht in Erstaunen. Sie sahen sich gegenseitig an.
„Also ist Evelyn fort“, sagte Susanne. „Dann wird sie ja die Prüfungen versäumen.“
Das hörte Mademoiselle. „Ja, und wie aufgeregt sie darüber war!“ erklärte sie. „,Nein, Mama’, sagte sie tapfer. ,Ich kann nicht mit dir nach Hause kommen, denn die Prüfungen stehen doch vor der Tür. Ich habe ja mit Absicht nichts von meiner Krankheit erzählt, weil ich sie keinesfalls versäumen wollte.’ Das hat sie gesagt – ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört.“
Der Klasse wurde beinahe schlecht. Wie schändlich! Wie gemein von Evelyn, ihre Mutter so aufzuregen!
Und sie hatte jetzt wahrhaftig erreicht, was sie wollte: den Prüfungen zu entgehen. Sehr klug ausgedacht von dieser durchtriebenen, gerissenen Evelyn.
„Mademoiselle, was geschieht nun mit unserer lieben Evelyn?“ fragte Alice.
„Ich weiß nicht“, sagte Mademoiselle. „Ich weiß nichts weiter. Aber ich bin froh, daß ich mit ihrer Mutter sprechen konnte. Hätte ich ihr nicht meine Decke gezeigt, hätte sie überhaupt nichts davon erfahren.“
„Ich vermute, daß Evelyn Sie bat, diese Decke zu holen“, sagte Conny. „Und ich vermute weiter, daß sie gerade ihr furchtbares Herzklopfen bekam, als Sie dabei waren, Mademoiselle.“
„Ich verstehe nicht, warum du auf solch höhnische Weise von ihr sprichst, Conny“, antwortete Mademoiselle erstaunt. „Du darfst nicht so herzlos sein; du mußt Mitleid haben!“
Die anderen machten sehr bissige Bemerkungen, und das überraschte Mademoiselle noch mehr. Nein, das war nicht freundlich von den Mädchen! Mademoiselle kräuselte die Lippen und sagte nichts mehr.
„Nun“, meinte Dolly am Abend im Schlafsaal, „daß Evelyn fort ist, ist ganz in Ordnung. Aber daß Mademoiselle so auf sie reinfallen konnte! Das wäre bei Mademoiselle Rougier nicht passiert. Die durchschaut Evelyn – genau wie Fräulein Wagner auch.“
„Immerhin, sie ist gut dran, sie entgeht den Prüfungen“, stöhnte Britta. „Ich wollte, ich könnte es auch! Schrecklich wird es sein – diese ganze Woche hindurch immerzu büffeln, nach so einem schönen Tag! Und nächsten Montag gehen die Prüfungen los!“
In dieser Woche war ständig jemand gereizt. Die Zwillinge grollten, besonders Ruth, obgleich sie weniger Angst vor der Prüfung haben mußte als Conny. Irene jammerte, weil sie sich nicht mit ihrer Musik befassen konnte. Dolly war nervös…
Nur Alice machte einen vergnügten und unbekümmerten Eindruck, und das brachte die anderen manchmal in Wut. Alice war immer die erste, die ihre Aufgaben fertig hatte und schwimmen gehen konnte. Sie arbeitete und pfiff die ganze Zeit über aufreizend, was die anderen wütend machte. Sie lachte über ihre ernsten Gesichter und über ihr Stöhnen.
„Es ist doch nur eine Zwischenprüfung, und die ist das ganze Elend nicht wert“, pflegte sie zu sagen. „Sei doch vergnügt, Conny. Schau nicht wie ein sterbender Schwan auf dein Mathematikbuch!“
Conny ging in die Luft – genau wie damals bei Evelyn.
Sie schleuderte ihr Buch auf den Tisch und schrie: „Sei ruhig! Weil du so leicht lernst, deshalb machst du dich lustig über andere, die nicht so gut dran sind! Warte nur ab, bis du auch mal schlimmes Kopfweh hast und dabei französische Gedichte seitenweise auswendig lernen mußt! Warte, bis du ganz närrisch wirst, weil du müde bist und schlafen möchtest und es nicht darfst. Warte, bis du eine schlimme Nacht hast und an alles mögliche denken mußt, was du im Aufsatz sagen willst – dann wirst du nicht so frech und unbekümmert und spöttisch sein! Dann wirst du wohl aufhören mit deinem furchtbaren Gepfeife!“
Alice war empört. Sie setzte zu einer Antwort an, aber Susanne kam ihr zuvor.
„Conny meint es in Wirklichkeit gar nicht so“, sagte sie ruhig. „Wir sind alle überarbeitet und dadurch reizbar und nervös. Sind die Prüfungen erst einmal vorbei, sind wir wieder ganz normal. Laßt uns deshalb nicht streiten,
Weitere Kostenlose Bücher