Dolly - 04 - Dolly, die Klassensprecherin
Brief bekam, mußte er beim Lesen lächeln. Natürlich war Evelyns Herz in Ordnung. Es fehlte ihr überhaupt nichts, außer daß sie ein bißchen zu dick war und mehr Bewegung brauchte. Turnen, Sport treiben, wandern, kein fettes Essen, keine Leckereien, viel Arbeit und weniger Beschäftigung mit sich selbst, so schrieb der Spezialist. „Sie ist eine kleine Simulantin. Schwimmen täte ihr besonders gut. Dann würde sie etwas Fett verlieren.“
Als der Arzt mit Frau Lessing telefonierte, mußte er das alles natürlich etwas zarter sagen. „Ich würde sie an Ihrer Stelle sofort in die Schule zurückschicken“, riet er. „Das Herumliegen ist für das Mädchen gar nicht gut.“
Evelyn war zornig, als sie das hörte. Sie legte die Hand aufs Herz, als ob es ihr wehtäte. „Ach, Mama, ich fahre natürlich zurück, wenn du es verlangst, aber laß mir noch eine Woche Zeit. Dann wird es mir sicher wieder viel besser gehen. Momentan fühle ich mich noch gar nicht sehr wohl.“
Frau Lessing war einverstanden. Evelyn freute sich. Hauptsache, daß sie die Prüfungen verpaßte!
Dann kam ihr Vater nach Hause, in Sorge wegen der Nachrichten, die seine Frau ihm über Evelyn geschickt hatte. Evelyn lag auf der Couch und lächelte ihn an. Er küßte sie und erkundigte sich ängstlich, was der Arzt gesagt hätte.
„Was? Nichts gefunden?“ fragte er erstaunt. „Ich gehe gleich mal zum Arzt. Den Brief des Spezialisten möchte ich gern selber lesen. Dann bin ich beruhigter.“
Und so las er wirklich den ungeschminkten Brief, sah, daß seine Tochter als „kleine Simulantin“ bezeichnet wurde. Er wußte sehr genau, daß sie wieder einmal eine Täuschung versucht hatte. Eine grausame Täuschung, die ihren Eltern viel Sorge bereitet hatte. Und alles nur, weil sie sich um die Arbeit für die Prüfungen drücken wollte!
Evelyn vergaß nie, was ihr Vater daraufhin zu ihr sagte. Er war böse und aufgebracht und zum Schluß auch traurig.
„Du bist mein einziges Kind“, sagte er. „Ich möchte dich liebhaben und stolz auf dich sein wie andere Eltern auch. Warum machst du mir das aber so schwer, Evelyn? Wir haben uns beide solche Sorgen um dich gemacht – und du hast uns nur Theater vorgespielt!“
„Ich tue es nie wieder“, schluchzte Evelyn beschämt.
„Morgen fährst du zurück zur Schule“, sagte ihr Vater.
„Ach bitte nicht, Papa! Ich kann nicht! Wegen der Prüfungen“, jammerte sie. „Ich habe nicht dafür gearbeitet.“
„Das interessiert mich nicht. Versuche es trotzdem, falle durch und werde allein mit der Schande fertig. Du hast dir alles selbst zuzuschreiben. Ich werde mit Frau Greiling telefonieren, mich entschuldigen, weil wir dich fortgenommen haben, und ihr die Anordnungen des Arztes geben: Bewegung in frischer Luft, viel Sport
– und vor allem: Schwimmen!“
Schwimmen! Was sie doch am meisten verabscheute! Evelyn brach wieder in Tränen aus.
Die Prüfungen begannen. Alle Mädchen waren zappelig – merkwürdigerweise sogar Alice. Tag für Tag arbeiteten sie, während die strahlende Julisonne durch die offenen Fenster schien und die Bienen draußen lockend summten.
Mit Alice war etwas Merkwürdiges geschehen. Sie verstand es selbst nicht. Am ersten Tag saß sie und starrte auf die Fragen, die ihr ganz leicht zu sein schienen. Das waren sie auch. Aber Alice merkte, daß sie ihre Gedanken einfach nicht sammeln konnte. Sie befühlte ihren Kopf. Hoffentlich bekam sie kein Kopfweh! Sie kämpfte mit den Fragen – ja, sie kämpfte! Das war Alice mit ihrer schnellen Auffassung kaum jemals vorgekommen. Sie sah zu den anderen hinüber und staunte – wie konnten die nur so schnell schreiben?
Alice kannte es kaum, daß sie auch nur einen Tag krank war. Sie war kräftig, gesund und klug. Deshalb konnte sie gar nicht begreifen, weshalb die Prüfungen ihr so schwerfielen. Nachts konnte sie nicht einschlafen, sondern hustete und warf sich umher. Hatte sie zuviel gearbeitet? Nein – bestimmt nicht! Die anderen hatten viel mehr gearbeitet und sie sogar immer beneidet, weil sie nicht so viel pauken mußte. Was in aller Welt war los?
Ach, dachte Alice und suchte eine kühle Stelle auf ihrem Kopfkissen, jetzt weiß ich, wie jemand zumute ist, der nur langsam begreift, wie Diana, oder der ein schlechtes Gedächtnis hat wie Evelyn. Ich kann mich auf nichts besinnen… und wenn ich es versuche, läßt mein Verstand mich im Stich.
Den anderen fiel auf, daß Alice in dieser Woche recht still und kleinlaut war; weil es ihnen aber nicht
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