Dolly - 12 - Die juegste Burgmoewe
sich nämlich längst gemeldet!“
Verhängnisvolle Briefe
Die Weihnachtszeit stand vor der Tür. In den Gemeinschaftsräumen wurde eifrig geplant und gebastelt. Die Theatergruppe probte für ein weihnachtliches Spiel und aus dem Probenraum des Chors klangen alte Adventslieder. Die Schlafsäle wurden mit Tannenzweigen, vergoldeten Kiefernzapfen und Kerzen geschmückt, und in Dollys kleiner Küche duftete es verheißungsvoll nach Lebkuchen und Zimtsternen.
Die Stimmung in der Burg war heiter und erwartungsfroh, man machte Pläne für die Weihnachtsferien und für den Elternbesuchstag, der am letzten Tag vor den Ferien stattfinden sollte.
Nur eine in der Burg war verbittert und von Gefühlen des Neides und Hasses erfüllt: Fräulein Sauer. Niemand war besonders unhöflich zu ihr, niemand tat ihr etwas zuleide, dennoch fühlte sie sich von der allgemeinen Heiterkeit und Harmonie ausgeschlossen. Im Unterricht wagten ihre Schülerinnen nicht zu mucksen, aber sie spürte genau, wie sie hinter ihrem Rücken über sie lachten und spotteten und auch stöhnten, daß sie die verhaßte Sauergurke als Klassenlehrerin ertragen mußten! In der Lehrerkonferenz behandelte man sie mit übertriebener Höflichkeit, aber sie glaubte aus jedem Wort mitleidvolle Verachtung herauszuhören.
Schlimmer noch traf sie der Erfolg der jungen Kollegen. Keiner schien mehr Wert auf die guten alten Regeln des Anstands und Gehorsams zu legen. Bei den Mahlzeiten schwatzten die Mädchen drauflos, als hätten sie noch nie von dem eisernen Gesetz gehört, daß Kinder bei Tisch den Mund zu halten haben. Und nicht nur bei Tisch – bei allem durften die Mädchen mitreden, mitplanen, hatten Freiheiten, die in Fräulein Sauers Jugendzeit einfach undenkbar gewesen wären!
Das Unbegreifliche daran war, daß die Leistungen der Mädchen keineswegs schlechter wurden, sondern eher besser. Die Klasse von Fräulein Wieland hatte ihren Notendurchschnitt seit dem vergangenen Jahr um eine ganze Note verbessert, und die Klasse von Herrn Schwarze konnte die besten Noten vorweisen, die je in der zweiten Klasse erreicht worden waren. Im Gegensatz dazu wurde Fräulein Sauers eigene Klasse immer lustloser und uninteressierter. Die Mädchen verhielten sich zwar vorbildlich ruhig im Unterricht, arbeiteten aber kaum mit, und ihre schriftlichen Aufgaben waren übersät mit Flüchtigkeitsfehlern. Selbst drastische Strafen halfen da nichts.
Fräulein Sauer empfand die Lage, in der sie sich in Burg Möwenfels befand, als tiefe Ungerechtigkeit. Und wenn sie schon nichts daran ändern konnte, so wollte sie sich doch wenigstens rächen. Sie hatte beschlossen, mit Ende des Schuljahrs die Burg zu verlassen und sich anderswo eine Aufgabe zu suchen, aber vorher wollte sie einmal einen Triumph über ihre Widersacher genießen! Und so ging sie Tag für Tag mit suchenden Augen durch die Räume auf der Spur nach einer Möglichkeit, dem von allen so geliebten Ehepaar Schwarze eins auszuwischen.
Seit einigen Wochen reifte in ihr da ein besonderer Plan. Schon oft hatte sie im Lehrerzimmer beobachtet, wenn sie scheinbar in einen Stapel Hefte vertieft schien, wie Herr Wollert Fräulein Wieland einen Briefumschlag unter ihre Hefte schob, oder auch schnell einen Brief in ihrer Tasche verschwinden ließ. Sie brannte vor Neugierde, was sich in diesen Umschlägen befand, die Fräulein Wieland nie öffnete, wenn einer der anderen Lehrer im Lehrerzimmer war.
Ungeduldig wartete Fräulein Sauer auf den Tag, der ihr das Glück bescherte, einen dieser Umschläge in die Finger zu bekommen. Und endlich war es soweit. Wieder hatte Herr Wollert einen Brief in Fräulein Wielands Tasche verschwinden lassen; Fräulein Sauer, die am Schrank gestanden hatte, hatte es im Spiegel gesehen.
In diesem Augenblick wurde Fräulein Wieland an die Tür gerufen. Zwei ihrer Schülerinnen standen dort und jammerten kläglich, eine dritte habe sich in der Pause den Fuß verletzt und könne nicht mehr auftreten – der Fuß sähe ganz scheußlich aus! Fräulein Wieland und Herr Wollert stürzten nach draußen. Das war die Gelegenheit! Wie der Blitz war Fräulein Sauer an der Tasche, die halb geöffnet neben Fräulein Wielands Stuhl am Boden stand. Ja, das war der Brief! Mit einem Griff riß Fräulein Sauer den Umschlag an sich und versteckte ihn in ihrer Jacke, dann verließ sie eilig das Lehrerzimmer.
Dolly begegnete ihr auf dem Flur, als sie in ihr Zimmer hinaufrannte. Es war nicht üblich, daß die Lehrer während des
Weitere Kostenlose Bücher