Dolores
stellt sich heraus, daß du doch aufs College gehen könntest, Sammy.«
»Ja, aber was macht ein Nudelholz auf der Treppe?« fragte er, und ganz plötzlich merkte ich, wie er mich anschaute. Sammy ist keinen Tag älter als fünfundzwanzig, aber sein Dad gehörte zu dem Suchtrupp, der Joe fand, und mir wurde schlagartig klar, daß Duke Marchant Sammy und den Rest seiner nicht gerade sonderlich hellen Sprößlinge vermutlich mit der Idee aufgezogen hatte, daß Dolores Claiborne-St. George ihren Alten um die Ecke gebracht hätte. Habe ich nicht eben gesagt, wenn man unschuldig ist, muß man sich mehr oder weniger an die Wahrheit halten? Nun, als ich gesehen hatte, wie Sammy mich anschaute, kam ich zu dem Schluß, daß dies vermutlich einer der Momente war, in denen das Weniger sicherer war als das Mehr.
»Ich war in der Küche und wollte gerade Brot backen, als sie fiel«, sagte ich. Da ist noch etwas, wenn man unschuldig ist - fast alle Lügen, zu denen man sich entschließt, sind ungeplant; unschuldige Leute verbringen nicht Stunden damit, sich ihre Geschichten auszudenken, so, wie ich mir meine ausgedacht hatte - ich meine, daß ich nach Russian Meadow hinaufgegangen wäre, um mir die Sonnenfinsternis anzusehen, und meinen Mann nicht mehr zu Gesicht bekommen hätte, bis ich ihn in Merciers Bestattungsunternehmen wiedersah. In der Minute, in der diese Lüge über das Brotbacken aus meinem Mund heraus war, wußte ich, daß man mir einen Strick daraus drehen konnte; aber wenn ihr den Ausdruck in seinen Augen gesehen hättet - dunkel und argwöhnisch und verängstigt -, dann hättet ihr vielleicht auch gelogen.
Er kam auf die Beine, wollte die Treppe wieder hinunter, dann blieb er stehen, wo er war, und schaute nach oben. Ich folgte seinem Blick. Was ich sah, war mein Unterrock, der zusammengeknüllt auf dem Absatz lag.
»Sieht aus, als hätte sie ihren Unterrock ausgezogen, bevor sie fiel«, sagte er und schaute mich wieder an. »Oder sprang. Oder was immer sie getan haben mag. Was meinst du, Dolores?«
»Nein«, sagte ich. »Das ist meiner.«
»Wenn du beim Brotbacken in der Küche warst«, sagte er, wobei er ganz langsam redete wie ein nicht sonderlich heller Bursche, der versucht, an der Tafel eine Rechenaufgabe zu lösen, »wie kommt dann dein Unterrock auf den Absatz?«
Darauf fiel mir keine Antwort ein. Sammy machte einen Schritt die Treppe runter und dann noch einen; er bewegte sich so langsam, wie er geredet hatte, hielt sich am Geländer fest, ließ mich keine Sekunde aus den Augen, und ganz plötzlich begriff ich, was er tat: er schaffte Abstand zwischen uns. Er tat es, weil er Angst hatte, ich könnte auf die Idee kommen, ihn genau so die Treppe runterzustoßen, wie er glaubte, daß ich sie runtergestoßen hätte. Und als ich sah, wie er so zu mir hochschaute, da wußte ich, daß ich über kurz oder lang hier sitzen würde, wo ich jetzt sitze, und all das erzählen, was ich jetzt erzähle. Seine Augen schienen laut zu sprechen und zu sagen: Einmal bist du damit durchgekommen, Dolores, und wenn man bedenkt, was für ein Mann Joe St. George war, nach dem, was mein Dad mir erzählt hat, dann ist dagegen vielleicht nichts einzuwenden. Aber was hat diese Frau dir getan, abgesehen davon, daß sie dich ernährt, dir ein Dach über dem Kopf gegeben und dir einen anständigen Lohn gezahlt hat? Und was seine Augen mehr als alles andere sagten, war, daß eine Frau, die einmal jemanden irgendwo runterstößt und damit durchkommt, imstande ist, es ein zweites Mal zu tun; daß sie, wenn der geeignete Moment kommt, es ein zweites Mal tut. Und wenn der Stoß nicht ausreicht, um das zu bewerkstelligen, was sie erreichen wollte, dann braucht sie nicht sonderlich lange zu überlegen, wie sie den Job auf andere Art zu Ende bringen kann. Mit einem marmornen Nudelholz zum Beispiel.
»Das geht dich nichts an, Sammy Marchant«, sagte ich. »Mach dich lieber wieder an deine Arbeit. Ich muß den Krankenwagen anrufen. Aber sieh zu, daß du deine Post aufsammelst, bevor du gehst, sonst machen dir eine Menge Kreditkarten-Gesellschaften die Hölle heiß.«
»Mrs. Donovan braucht keinen Krankenwagen«, sagte er, ging zwei weitere Stufen hinunter und ließ mich dabei keinen Moment aus den Augen, »und ich gehe nirgendwo hin. Ich finde, anstatt nach einem Krankenwagen zu telefonieren, solltest du lieber Andy Bissette anrufen.«
Was ich, wie ihr wißt, getan habe. Sammy Marchant stand daneben und sah zu, wie ich es tat.
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