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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nicht. Ich wußte genau, was sie dachte, wußte, daß es nie ganz aus ihrem Denken verschwunden war. Ich sah in ihren Augen dieselben Fragen, die sie mir neun Jahre zuvor gestellt hatte, als sie zu mir in den Garten kam, zwischen den Bohnen und den Gurken: »Hast du ihm etwas getan?« und »Ist es meine Schuld?« und »Wie lange muß ich dafür zahlen?«
    Ich ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie erwiderte die Umarmung, aber ihr Körper fühlte sich steif an, stocksteif und das war der Moment, in dem ich spürte, daß das Leben aus dem Haus verschwand. Es erlosch wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. Ich glaube, Selena hat es auch gespürt. Aber Joe Junior nicht; er benutzt das Foto des Hauses gelegentlich als Titelbild für seine Wahlkampfbroschüren - das läßt ihn als einen Mann wie du und ich erscheinen, und das mögen die Wähler -, aber er hat nicht gespürt, wie es starb, weil er es von Anfang an nie geliebt hat. Und weshalb sollte er auch? Für Joe Junior war dieses Haus einfach der Ort, an den er nach der Schule zurückkehrte, der Ort, an dem sein Vater über ihn herfiel und ihn einen bücherlesenden Spinner nannte. Cumberland Hall, wo er während seines Studiums wohnte, war für Joe Junior mehr ein Zuhause, als das Haus an der Hast Lane es je gewesen ist.
    Aber es war mein Zuhause, und auch das von Selena. Ich glaube, mein gutes Mädchen hat noch lange, nachdem sie den Staub von Little Tall von den Füßen geschüttelt hatte, dort gewohnt; ich glaube, sie wohnte dort in ihren Erinnerungen - in ihrem Herzen - in ihren Träumen. Ihren Alpträumen.
    Dieser muffige Geruch - wenn er sich einmal festgesetzt hat, wird man ihn nie mehr los.
    Ich saß eine Weile an einem der offenen Fenster, um eine Nase voll frischen Seewind zu bekommen, dann hatte ich so ein komisches Gefühl, und mir war, als müßte ich die Türen abschließen. Die Vordertür war einfach, aber das Drückerschloß an der Hintertür war so störrisch, daß es sich nicht rührte, bis ich ihm mit der Heiligen Dreifaltigkeit kam. Endlich funktionierte es, und dabei wurde mir klar, weshalb es so störrisch war: es war eingerostet. Ich verbrachte manchmal fünf oder sechs Tage hintereinander in Pinewood, trotzdem konnte ich mich nicht erinnern, wann ich mir das letzte Mal die Mühe gemacht hatte, das Haus abzuschließen.
    Das - und der trotz der offenen Fenster muffige Dunst in der Küche - nahm mir allen Mumm aus den Knochen. Ich ging in mein Schlafzimmer, legte mich hin und zog mir das Kissen über den Kopf, wie ich es als kleines Mädchen immer getan hatte, wenn ich ungezogen gewesen und früh ins Bett geschickt worden war. Ich weinte und weinte und weinte. Ich hätte nie geglaubt, daß ich so viele Tränen in mir hatte. Ich weinte um Vera und um Selena und um Little Pete; ich glaube, ich weinte sogar um Joe. Aber vor allem weinte ich um mich selbst. Ich weinte, bis meine Nase zu war und meine Bauchmuskeln sich verkrampften. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen. Als ich aufwachte, war es dunkel, und das Telefon läutete. Ich stand auf und tastete mich ins Wohnzimmer, um den Hörer abzunehmen. Als ich mich gemeldet hatte, sagte eine Frauenstimme: »Du kannst sie nicht ermorden. Ich hoffe, du weißt das. Wenn das Gesetz dich nicht erwischt, dann tun wir es. Wir brauchen hier nicht mit Mörderinnen zu leben, Dolores Claiborne, jedenfalls nicht, solange es auf der Insel noch anständige Christenmenschen gibt, die was dagegen tun.«
    Ich war so schlaftrunken, daß ich zuerst dachte, es wäre ein Traum. Als ich endlich begriffen hatte, daß ich tatsächlich wach war, hatte sie aufgelegt. Ich war auf dem Weg zur Küche, um den Kaffeekessel aufzusetzen oder mir vielleicht ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen, als das Telefon abermals läutete. Auch diesmal war es eine Frau, aber nicht dieselbe. Sie redete ziemlichen Unflat, und ich legte schnell auf. Wieder überkam mich der Drang zu weinen, aber der Teufel sollte mich holen, wenn ich es tat. Statt dessen zog ich den Telefonstecker aus der Wand, ging in die Küche und holte mir ein Bier, aber es schmeckte mir nicht, und schließlich kippte ich den größten Teil davon in den Ausguß. Ich glaube, was ich wirklich gebraucht hätte, wäre ein Schluck Scotch gewesen, aber seit Joes Tod habe ich keinen Tropfen Schnaps mehr im Haus gehabt.
    Ich ließ ein Glas mit Wasser vollaufen und stellte fest, daß ich seinen Geruch nicht aushielt - es roch wie Münzen, die ein Kind den ganzen Tag in seiner

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