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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Michael Donovan war, Veras Mann. Aber als das Gesicht zum zweiten Mal zum Vorschein kam, war es mein Mann. Es war Joe St. George, mit einem niederträchtigen Grinsen im Gesicht und einer Menge von langen, schnappenden Staubzähnen. Beim dritten Herumrollen war es niemand, den ich kannte, aber es war lebendig, es war hungrig, und es hatte vor, weiterzurollen, bis es mich fressen konnte. 
    Ich riß mich mit einem solchen Ruck aus dem Schlaf, daß ich beinahe selbst aus dem Bett gefallen wäre. Es war früher Morgen, und die ersten Sonnenstrahlen lagen auf den Dielen. Vera schlief noch. Sie hatte meinen Arm vollgesabbert, aber fürs erste hatte ich nicht die Kraft, ihn abzuwischen. Ich lag nur zitternd da, schweißgebadet, und versuchte mich davon zu überzeugen, daß ich wirklich wach und alles in bester Ordnung war - so, wie man es nach einem ganz schlimmen Alptraum gewöhnlich tut. Und eine Sekunde lang konnte ich nach wie vor diesen Staubkopf mit seinen großen, leeren Augen und den langen Staubzähnen auf dem Fußboden neben dem Bett liegen sehen. So schlimm war dieser Traum. Dann war er verschwunden; der Fußboden und die Zimmerecken waren leer und sauber wie immer. Aber seither habe ich mich immer wieder gefragt, ob nicht vielleicht sie mir diesen Traum geschickt hatte, ob ich nicht etwas von dem gesehen hatte, was sie immer sah, wenn sie dermaßen kreischte.  Vielleicht hatte sich etwas von ihrer Angst auf mich übertragen. Glaubt ihr, daß so etwas im wirklichen Leben passieren kann? Oder nur in diesen billigen Zeitschriften, die sie unten im Dorfladen verkaufen? Ich weiß es nicht ich weiß nur, daß dieser Traum mir eine Mordsangst eingejagt hat.
    Aber lassen wir das. Es reicht, wenn ich sage, daß dieses Loskreischen an den Sonntagnachmittagen und mitten in der Nacht die dritte Art war, auf die sie ein Luder war. Trotzdem war es eine sehr, sehr traurige Geschichte. Hinter all ihrer Niedertracht steckte Traurigkeit, auch wenn das nicht verhinderte, daß ich ihr manchmal am liebsten den Hals umgedreht hätte, und ich glaube, jeder außer der Heiligen Johanna hätte dasselbe empfunden. Ich nehme an, wenn Susy und Shawna oder ein paar andere Leute mich an jenem Tag schreien hörten, daß ich sie am liebsten umbringen würde - oder wenn sie gehört haben, wie wir uns gegenseitig Gemeinheiten an den Kopf warfen nun, sie müssen geglaubt haben, ich würde meine Röcke raffen und auf ihrem Grab Boogie tanzen, wenn sie endlich das Zeitliche gesegnet hatte. Und vermutlich hast du gestern und heute von einigen von ihnen dergleichen gehört, stimmt’s Andy? Du brauchst nicht zu antworten; alles, was ich an Antwort brauche, steht dir im Gesicht geschrieben. Es ist die reinste Anschlagtafel.
    Außerdem weiß ich, wie gern die Leute reden. Sie haben über mich und Vera geredet, und es ist auch eine Menge geklatscht worden über mich und Joe - bevor er starb, und noch mehr hinterher. Wir leben hier draußen hinter dem Mond, und so ungefähr das Interessanteste, was ein Mensch tun kann, ist, daß er plötzlich stirbt. Ist euch das auch schon einmal aufgefallen?
    Womit wir bei Joe angekommen wären.
    Vor diesem Teil habe ich mich gefürchtet, und es hat keinen Sinn, das abstreiten zu wollen. Ich sagte auch schon, daß ich ihn umgebracht habe; das hätten wir hinter uns. Aber das Schwerste kommt noch: zu erklären, wie, weshalb und wann es geschehen mußte.
    Ich habe heute viel über Joe nachgedacht, Andy - mehr als über Vera, um die Wahrheit zu sagen. Ich habe immer wieder versucht, mich zu erinnern, warum ich ihn überhaupt geheiratet habe, und anfangs ist es mir nicht gelungen. Nach einer Weile geriet ich deshalb in eine Art Panik, ungefähr so wie Vera, wenn sie sich einbildete, in ihrem Kopfkissenbezug wäre eine Schlange. Dann wurde mir klar, wo das Problem lag - ich suchte nach Liebe, die im Spiel war, als wäre ich eines dieser dummen kleinen Dinger, die Vera früher im Juni einstellte und dann wieder hinauswarf, noch bevor der Sommer halb um war, weil sie nicht imstande waren, sich an die Regeln zu halten. Ich suchte nach der Liebe, die im Spiel war. Aber von Liebe war schon damals, im Jahre 1945, herzlich wenig die Rede, als ich achtzehn war und er neunzehn und die Welt noch neu.
    Wisst ihr, was das einzige war, was mir einfiel, während ich heute dort draußen auf den Stufen saß, mir den Hintern abfror und mich an Liebe zu erinnern versuchte? Er hatte eine hübsche Stirn. Ich saß neben ihm im Lesesaal, als wir

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