Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
die ihre Haut verbrannte, oder die Drähte in der Ecke, aber wenn sie es waren, dann wußte ich, was mir bevorstand. Wenn sie anfing zu kreischen, wußte ich, daß es die Staubflocken waren, sogar wenn es mitten in der Nacht war und ich bei geschlossener Tür in meinem Zimmer fest schlief. Wenn sie wegen der anderen Dinge verrückt spielte…
    Was hast du gesagt, Mädchen?
    Oh, hab ich das nicht getan?
    Nein, du brauchst dein hübsches kleines Bandgerät nicht näher ranzuschieben; wenn du möchtest, daß ich lauter rede, dann tue ich es. Normalerweise habe ich das lauteste Mundwerk, das man sich vorstellen kann - Joe pflegte zu sagen, er würde sich am liebsten Watte in die Ohren stopfen, wenn ich im Haus war. Aber bei den Staubflocken ist es mir immer kalt über den Rücken gelaufen, und wenn ich jetzt zu leise gesprochen habe, dann beweist das vermutlich, daß es das noch heute tut, selbst jetzt, da sie tot ist. Manchmal habe ich sie deswegen ausgeschimpft. »Was soll dieser verdammte Unsinn, Vera?« habe ich sie gefragt. Aber es war kein Unsinn. Jedenfalls für Vera nicht. Ich habe mehr als einmal gedacht, sie würde sich vor diesen verdammten Staubflocken zu Tode fürchten. Und das ist, wenn man’s recht bedenkt, gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. 
    Was ich sagen wollte: wenn sie wegen der anderen Dinge verrückt spielte - der Schlange im Kopfkissenbezug, der Sonne, den Drähten -, dann schrie sie. Aber wenn es die Staubflocken waren, dann kreischte sie. Meistens brachte sie nicht einmal Worte heraus, sondern kreischte nur so laut und so lange, daß man davon Eiswürfel im Magen bekam.
    Ich rannte zu ihr hinein, und sie riß an ihren Haaren oder bearbeitete ihr Gesicht mit den Fingernägeln und sah aus wie eine Hexe. Ihre Augen waren so groß, daß sie fast aussahen wie weichgekochte Eier, und sie starrten immer in die eine oder andere Ecke.
    Manchmal war sie imstande zu sagen: »Staubflocken, Dolores! Oh, mein Gott, Staubflocken!« Zu anderen Zeiten konnte sie nur kreischen und würgen. Sie schlug für ein oder zwei Sekunden die Hände vor die Augen, doch dann nahm sie sie wieder herunter. Es war, als könnte sie es ebensowenig ertragen, hinzuschauen, wie nicht hinzuschauen. Und dann fiel sie wieder mit den Fingernägeln über ihr Gesicht her. Nach den ersten paar Abenteuern mit den Staubflocken schnitt ich sie ihr so kurz wie nur möglich, aber trotzdem blutete es oft, und jedesmal, wenn es passierte, fragte ich mich, wie ihr Herz dieses Entsetzen verkraften konnte, alt und fett, wie sie war.
    Einmal fiel sie sogar aus dem Bett und lag dann da, mit einem Bein unter dem Körper. Jagte mir einen Mordsschrecken ein. Ich kam ins Zimmer gerannt, und da lag sie auf dem Boden, hämmerte mit den Fäusten auf die Dielen wie ein Kind, das einen Wutanfall hat, und kreischte, daß sich die Balken bogen. Das war das einzige Mal in all den Jahren, daß ich mitten in der Nacht Dr. Freneau angerufen habe. Er kam mit Collie Violettes Schnellboot von Jonesport rüber. Ich rief ihn an, weil ich dachte, ihr Bein wäre gebrochen, es mußte gebrochen sein, so wie es unter ihr lag, und ich fürchtete, der Schock würde sie umbringen. Aber es war nicht gebrochen - ich habe keine Ahnung, wie das sein konnte, aber Freneau sagte, es wäre nur verrenkt -, und am nächsten Tag wechselte sie wieder in eine ihrer klaren Perioden und konnte sich an nichts erinnern.  Als sie wieder so einigermaßen wußte, wo oben  und unten war, fragte ich sie ein paarmal nach den Staubflocken, und sie sah mich an, als wäre ich verrückt. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, von was ich sprach. 
    Nachdem es ein paarmal passiert war, wußte ich, was ich zu tun hatte. Sobald ich sie auf diese Weise kreischen hörte, war ich aus dem Bett und zu meiner Tür heraus mein Zimmer ist nur zwei Türen von ihrem entfernt, nur die Wäschekammer liegt dazwischen. Seit ihrem ersten Zirkus mit den Staubflocken stand auf dem Flur ein Besen bereit, an dessen Stiel ich ein Kehrblech befestigt hatte. Ich stürmte in ihr Zimmer, schwenkte den Besen, als hätte ich vor, einen Postzug anzuhalten, und schrie gleichfalls (das war die einzige Möglichkeit, mich verständlich zu machen).
    »Ich kriege sie, Vera!« schrie ich. »Ich kriege sie. Hören Sie auf, so ein Spektakel zu machen!«
    Und dann fegte ich die Ecke, in die sie gerade starrte, und dann sicherheitshalber auch noch die andere. Manchmal beruhigte sie sich danach, aber meistens schrie sie dann, unter

Weitere Kostenlose Bücher