Dolores
der Fähre bekam ich einen Fensterplatz in der Kabine und beobachtete einen Jungen und ein Mädchen, die kaum älter waren als Selena. Sie standen draußen an der Reling, hielten sich bei der Hand und sahen zu, wie über dem Meer der Mond aufging. Er drehte sich zu ihr um und sagte etwas, was sie lachend zu ihm aufschauen ließ. Du wärest ganz schön blöd, Sonny-Boy, wenn du dir so eine Chance entgehen lassen würdest - und er ließ sie sich nicht entgehen; er neigte sich zu ihr, faßte ihre andere Hand und küßte sie. Gott, wie bist du dämlich gewesen, sagte ich zu mir selbst, als ich die beiden beobachtete. Entweder blöd oder zu alt, um dich zu erinnern, wie es ist, wenn man fünfzehn ist. Selena hat einen Jungen kennengelernt, das ist alles. Sie hat einen Jungen kennengelernt, und wahrscheinlich machen sie nach Schulschluß ihre Hausaufgaben gemeinsam in diesem Lesesaal und Studieren sich vermutlich viel mehr gegenseitig als ihre Bücher. Ich war ganz schön erleichtert, das kann ich euch Versichern.
Ich dachte darüber nach während der nächsten paar Tage - ein Gutes hat das Waschen von Laken und das Bügeln von Hemden und das Saugen von Teppichen, man hat immer viel Zeit zum Nachdenken -, und je mehr ich nachdachte, desto weniger erleichtert war ich. Zum einen hatte sie nichts von irgendeinem Jungen verlauten lassen, und es war nie Selenas Art, etwas zu verschweigen, was in ihrem Leben vorging. Sie war mir gegenüber nicht so offen und herzlich, wie sie es gewesen war, bevor ich Joe den Sahnekrug an den Kopf pfefferte, nein, aber es war auch nicht so, als hätte es zwischen uns eine Mauer des Schweigens gegeben. Außerdem hatte ich immer geglaubt, wenn Selena sich einmal verlieben sollte, dann würde sie vermutlich eine Anzeige in die Zeitung setzen.
Das Entscheidende das Beängstigende war ihre Art, mich anzuschauen. Mir ist immer aufgefallen, daß bei einem Mädchen, das verrückt ist nach irgendeinem Jungen, die Augen so hell strahlen, als hätte jemand hinter ihnen eine Taschenlampe angeknipst. Wenn ich in Selenas Augen nach diesem Licht suchte, war es nicht da. Aber das war nicht das Schlimmste. Das Licht, das früher in ihnen gewesen war, war erloschen das war das Schlimmste. Wenn man ihr in die Augen sah, dann war das so, als sähe man in die Fenster eines Hauses, aus dem die Bewohner ausgezogen sind, ohne daran zu denken, die Jalousien runterzulassen.
Diese Feststellung war es, die schließlich meine Augen öffnete, und mir begann allerlei aufzufallen, was ich eigentlich schon früher hätte bemerken müssen - früher bemerkt hätte, glaube ich, wenn ich nicht so schwer gearbeitet hätte und wenn ich nicht so davon überzeugt gewesen wäre, daß Selena sauer auf mich war, weil ich ihrem Dad eine gescheuert hatte.
Das erste, was mir auffiel, war, daß es jetzt nicht mehr nur mich betraf - sie hatte sich auch von Joe zurückgezogen. Sie ging nicht mehr zu ihm hinaus, wenn er an einer seiner Schrottkisten oder an irgendjemandes Außenbordmotor arbeitete, und sie saß abends beim Fernsehen auch nicht mehr neben ihm auf der Couch. Wenn sie im Wohnzimmer blieb, dann saß sie in dem Schaukelstuhl neben dem Kamin mit einem Strickzeug auf dem Schoß. Aber an den meisten Abenden blieb sie nicht. Sie ging in ihr Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Joe schien nichts dagegen zu haben oder es nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Er ließ sich einfach in seinem Sessel nieder mit Little Pete auf dem Schoß, bis es für Little Pete Zeit war, schlafen zu gehen.
Eine weitere Sache war ihr Haar - sie wusch es nicht mehr jeden Tag, wie sie es sonst immer getan hatte. Manchmal sah es so fettig aus, daß man Eier darin hätte braten können, und das war ganz und gar nicht ihre Art. Ihre Haut war immer so hübsch gewesen - diesen schenen Sahne-und-Pfirsich-Teint hatte sie vermutlich von Joes Seite des Stammbaums -, aber in diesem Oktober blühten die Pickel wie Löwenzahn auf der Gemeindewiese nach dem Memorial Day. Sie hatte ihre Farbe verloren, und ihren Appetit auch.
Sie besuchte nach wie vor hin und wieder ihre beiden besten Freundinnen, Tanya Caron und Laurie Langill, aber längst nicht mehr so oft wie in ihrem ersten Schuljahr. Und mir fiel auf, daß Tanya und Laurie nicht mehr in unserem Haus gewesen waren, seit die Schule wieder angefangen hatte - und während des letzten Monats der Sommerferien auch nicht. Das beunruhigte mich, Andy, und ich nahm mir vor, mir mein Mädchen noch genauer
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