Dolores
vermutlich mit der Peitsche in der Hand dasteht und sich fragt, wie zum Teufel das passieren konnte. Das war es, wohin das Verlangen, seine Stirn zu berühren, festzustellen, ob sie sich so glatt anfühlte, wie sie aussah, mich gebracht hatte; das war es, worauf das alles hinausgelaufen war. Jetzt waren meine Augen offen, und ich sah, daß ich mit einem lieblosen, erbarmungslosen Mann zusammenlebte, der glaubte, alles, was er mit seinen Armen erreichen und mit seinen Händen greifen konnte, gehörte ihm - sogar seine eigene Tochter.
Ich war in meinen Überlegungen ungefähr so weit gekommen, als mir der Gedanke, ihn umzubringen, zum ersten Mal durch den Kopf schoß. Es war nicht der Moment, in dem ich mich entschloß, es zu tun - davon kann keine Rede sein -, aber ich würde lügen, wenn ich behaupten wollte, dieser Gedanke wäre nur ein Tagtraum gewesen. Er war wesentlich mehr als nur das.
Selena mußte etwas davon in meinen Augen gesehen haben, denn sie legte mir die Hand auf den Arm und sagte: »Wird es Ärger geben, Mommy? Bitte sag, daß es keinen geben wird - er wird wissen, daß ich es dir erzählt habe, und er wird wütend sein.«
Ich hätte sie gern beruhigt, indem ich ihr das sagte, was sie hören wollte, aber ich konnte es nicht. Es würde Ärger geben - aber wieviel und wie schlimm, das würde von Joe abhängen. Er hatte zwar einen Rückzieher gemacht an dem Abend, an dem ich ihn mit dem Sahnekrug schlug, aber das bedeutete nicht, daß er es wieder tun würde.
»Ich weiß nicht, was passieren wird«, sagte ich, »aber zweierlei kann ich dir versichern, Selena: nichts von alledem ist deine Schuld, und er wird dich nie wieder betatzen und belästigen.«
Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, und eine davon floß über und rollte ihr über die Wange. »Ich will nicht, daß es Ärger gibt«, sagte sie. Sie schwieg eine Minute, ihr Mund arbeitete, und dann stieß sie hervor: »Oh, das ist alles so entsetzlich! Warum hast du ihn geschlagen? Warum hat er sich an mich rangemacht? Warum konnte nicht alles so bleiben, wie es immer gewesen ist?«
Ich ergriff ihre Hand. »Das tut es nie, mein Liebling manchmal geht etwas schief, und dann muß es wieder in Ordnung gebracht werden. Das weißt du doch selber, oder?«
Sie nickte. Ich sah Qual in ihrem Gesicht, aber keinen Zweifel. »Ja«, sagte sie. »Ich glaube, das weiß ich.«
Wir hatten den Anleger erreicht und keine Zeit mehr zum Reden. Das konnte mir nur recht sein; ich wollte nicht, daß sie mich mit diesen Tränen in den Augen ansah, sich wünschte, was sich vermutlich jedes Kind wünscht, daß alles in Ordnung kommt, aber schmerzlos und ohne daß jemand verletzt wird. Daß sie sich Versprechen von mir wünschte, die ich nicht geben konnte, weil es Versprechen waren, von denen ich nicht wußte, ob ich sie halten konnte. Ich war mir nicht sicher, ob dieses innere Auge zulassen würde, daß ich sie hielt. Wir verließen die Fähre, ohne daß noch ein Wort zwischen uns gesprochen wurde, und das konnte mir nur recht sein.
An diesem Abend, als Joe vom Haus der Carstairs nach Hause gekommen war, wo er eine Hinterveranda baute, schickte ich alle drei Kinder zum Einkaufen in den Ort. Ich sah, wie Selena mir auf dem Weg zur Straße immer wieder kleine Blicke zuwarf, und ihr Gesicht war so blaß wie ein Glas Milch. Jedesmal, wenn sie den Kopf drehte, Andy, sah ich dieses gottverdammte Beil in ihren Augen. Aber ich sah in ihnen auch noch etwas anderes, und ich glaube, es war Erleichterung. Wenigstens geht es nicht weiter wie bisher, muß sie gedacht haben; schließlich war sie so verängstigt, daß ich glaube, ein Teil von ihr muß das gedacht haben.
Joe saß neben dem Herd und las den American, wie er es jeden Abend tat. Ich stand an der Holzkiste und sah ihn an, und dieses innere Auge schien sich immer weiter zu öffnen. Sieh ihn dir an, dachte ich, wie er da sitzt wie der Großmufti von Oberarschville. Sitzt da, als brauchte er nicht mit einem Bein nach dem anderen in die Hose zu steigen wie jedermann sonst. Sitzt da, als wäre das Rumfummeln an seiner einzigen Tochter die natürlichste Sache von der Welt und als könnte jeder Mann ruhig schlafen, nachdem er es getan hat. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie wir vom Abschlußball im Samoset Inn dorthin gekommen waren, wo wir jetzt waren, wo er neben dem Herd saß und in seinen alten, geflickten Jeans und dem schmutzigen Thermal-Unterhemd die Zeitung las und ich an der Holzkiste stand mit Mord im
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