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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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lesen war.
    Jetzt habe ich fast eine Dreiviertelstunde über Selena geredet, aber es war nicht nur sie, die unter ihm zu leiden hatte. Sie kriegte den schlimmsten Teil ab, aber auch für Joe Junior war noch genug Unwetter übrig. 1962 war er zwölf, das schönste Alter für einen Jungen, aber auf die Idee wäre man nicht gekommen, wenn man ihn ansah. Es kam kaum noch vor, daß er lächelte oder lachte, und das war auch kein Wunder. Er war kaum ins Zimmer gekommen, da fiel sein Vater auch schon über ihn her wie ein Wiesel über ein Huhn, wies ihn an, sein Hemd in die Hose zu stecken, sich die Haare zu kämmen, nicht so herumzuschlurfen, erwachsen zu werden, endlich aufzuhören, so ein verdammter Weichling zu sein, mit der Nase immer in einem Buch, ein Mann zu werden. Als Joe Junior es in dem Sommer, bevor ich herausfand, was mit Selena los war, nicht schaffte, in die Little League All Star-Mannschaft zu kommen, da hätte man, wenn man seinem Vater zuhörte, glauben können, er wäre aus dem Olympia-Team ausgeschlossen worden, weil er Dopingpillen genommen hatte. Wenn man dazunimmt, daß er begriffen haben mußte, was sein Vater mit seiner großen Schwester anstellte, dann kann man sich vorstellen, in welcher Verfassung der Junge war. Ein schöner Mist! Manchmal beobachtete ich, wie Joe Junior seinen Vater anschaute, und ich sah wirklichen Haß im Gesicht des Jungen - puren Haß. Und in den ein oder zwei Wochen, bevor ich mit den Sparbüchern in der Tasche rüberfuhr aufs Festland, da wurde mir klar, daß, wenn es um seinen Vater ging, auch Joe Junior sein inneres Auge hatte.
    Und dann war da noch Little Pete, der Augapfel seines Vaters. Schon als er vier war, stolzierte er hinter seinem Vater her, zog genau wie Joe ständig den Hosenbund hoch und zupfte an seiner Nasenspitze und an seinen Ohren, genau wie Joe. Natürlich hatte Little Pete dort keine Haare, an denen er zupfen konnte, deshalb tat er nur so. An seinem ersten Schultag kam er schluchzend nach Hause mit schmutzigem Hosenboden und einem Kratzer im Gesicht. Ich setzte mich neben ihn auf eine Verandastufe, legte ihm den Arm um die Schultern und fragte ihn, was passiert war. Er sagte, dieser verdammte Wichser Dicky O’Hara hätte ihn umgeschubst. Ich sagte ihm, verdammt wäre fluchen, und das sollte er nicht tun; und dann fragte ich ihn, ob er wüßte, was ein Wichser ist. Um die Wahrheit zu gestehen - ich war ziemlich neugierig, was er von sich geben würde.
    »Klar weiß ich das«, sagte er. »Ein Wichser ist ein Blödmann wie Dicky O’Hara.« Ich sagte ihm, das stimmte nicht, und er fragte mich, was es denn sonst bedeutete. Ich sagte ihm, das wäre unwichtig, aber es wäre kein anständiges Wort, und ich wollte nicht, daß er es noch einmal gebrauchte. Er saß nur da und starrte mich mit vorgeschobener Unterlippe an. Er sah genau so aus wie sein Alter. Selena hatte Angst vor ihrem Vater, Joe Junior haßte ihn, aber in gewisser Hinsicht war es Little Pete, der mir die größten Sorgen machte: Little Pete wollte genau so werden, wie er war.
    Ich holte also ihre Sparbücher aus der untersten Schublade meiner kleinen Schmuckschatulle (ich bewahrte sie dort auf, weil sie damals der einzige abschließbare Gegenstand war, den ich besaß; ich trug den Schlüssel an einem Kettchen um den Hals) und betrat gegen halb eins die Coastal Northern Bank in Jonesport. Als ich an der Reihe war, schob ich der Kassiererin die drei Sparbücher zu und sagte, ich wollte alle drei Konten auflösen, und erklärte, wie ich das Geld haben wollte. 
    »Das werden wir gleich haben, Mrs. St. George«, sagte sie und ging in den Hintergrund ihrer Kabine, um die Kontoauszüge zu holen. Damals gab es natürlich noch keine Computer, und alles war wesentlich umständlicher. Sie fand sie - ich sah, wie sie alle drei herauszog -, und dann schlug sie sie auf und betrachtete sie. Auf ihrer Stirn erschien eine kleine Falte, und sie sagte etwas zu einer der anderen Frauen. Dann betrachteten sie sie beide eine Weile, während ich auf der anderen Seite des Schalters stand, sie beobachtete und mir sagte, es gäbe überhaupt keinen Grund, nervös zu sein, und trotzdem verdammt nervös war.
    Dann, anstatt zu mir zurückzukommen, ging die Kassiererin in eine dieser kleinen Schachteln, die sie Büros nennen. Sie hatte Glaswände, und ich konnte sehen, wie sie mit einem kleinen, kahlköpfigen Mann in einem grauen Anzug und mit einer schwarzen Krawatte redete. Als sie zum Schalter zurückkehrte, hatte sie

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