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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Grund. Ich hielt mich wirklich für schlau, schlauer als er jedenfalls, und damit hatte es sich. Ich bildete mir ein, wenn er versuchen würde, sich an mir zu rächen, dann würde ich fünf Minuten, nachdem er damit angefangen hatte, herausfinden, was er im Schilde führte. Mit anderen Worten, es war Überheblichkeit, pure Überheblichkeit, und der Gedanke, daß er bereits damit angefangen hatte, kam mir überhaupt nicht.
    Als die Kinder aus dem Dorf zurückkamen, schickte ich die Jungen ins Haus und ging mit Selena in den Hintergarten. Da gibt es ein großes Brombeergestrüpp, fast kahl um diese Jahreszeit. Eine kleine Brise war aufgekommen und ließ die Zweige rascheln. Es war ein einsames Geräusch. Und auch ein bißchen unheimlich. Da ragt ein großer weißer Felsbrocken aus der Erde, und auf den setzten wir uns. Über dem East Hemd war ein Halbmond aufgegangen, und als sie meine Hände ergriff, waren ihre Finger genau so kalt, wie dieser Halbmond aussah.
    »Ich trau mich nicht, hineinzugehen, Mommy«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte. »Kann ich rübergehen zu Tanya? Bitte, sag ja.«
    »Du brauchst vor nichts Angst zu haben, mein Liebling«, sagte ich. »Alles ist ausgestanden.«
    »Ich glaube es nicht«, flüsterte sie, obwohl ihr Gesicht sagte, daß sie es gern geglaubt hätte - ihr Gesicht sagte, daß sie das lieber glauben würde als alles andere.
    »Es stimmt«, sagte ich. »Er hat versprochen, dich in Ruhe zu lassen. Er hält nicht immer seine Versprechen, aber das wird er halten, jetzt, wo er weiß, daß ich aufpasse und er nicht mehr damit rechnen kann, daß du den Mund hältst. Außerdem hat er eine Mordsangst.«
    »Mordsangst? Wovor?«
    »Weil ich ihm gesagt habe, daß ich ihn nach Shawshank bringen würde, wenn er weiterhin seine widerlichen Spielchen mit dir treibt.«
    Sie keuchte, und ihre Hände krampften sich um die meinen. »Mommy, das kann doch nicht wahr sein!«
    »Es ist wahr, und es ist mir Ernst damit«, sagte ich. »Es ist besser, wenn du das weißt, Selena. Aber ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen machen; Joe wird in den nächsten vier Jahren vermutlich mindestens drei Meter Abstand von dir halten - und dann bist du auf dem College.  Wenn es auf der Welt etwas gibt, woran ihm liegt, dann ist es seine eigene Haut.«
    Sie ließ meine Hände los, langsam, aber sicher. Ich sah, wie die Hoffnung in ihr Gesicht zurückkehrte, und außerdem noch etwas anderes. Es war, als kehrte ihre Jugend zurück, und erst jetzt, da ich im Mondschein neben ihr bei dem Brombeergestrüpp saß, wurde mir klar, wie alt sie in diesem Herbst ausgesehen hatte.
    »Er wird mich nicht verprügeln oder so etwas?« fragte sie.
    »Nein«, sagte ich. »Die Sache ist erledigt.« 
    Da glaubte sie alles und legte den Kopf an meine Schulter und begann zu weinen. Jetzt waren es Tränen der Erleichterung, und daß sie auf diese Weise weinen mußte, hatte zur Folge, daß ich Joe nur noch mehr haßte.
    Ich glaube, in den nächsten paar Nächten hatte ich ein Mädchen im Haus, das besser schlief als in den letzten drei Monaten oder so - aber ich lag wach. Ich hörte zu, wie Joe neben mir schnarchte, und betrachtete ihn mit diesem inneren Auge. Ich hätte mich am liebsten umgedreht und ihm die Kehle durchgebissen. Aber ich war nicht mehr so verrückt, wie ich es gewesen war, als ich ihm beinahe mit dem Holzscheit den Schädel eingeschlagen hätte. Damals hatte der Gedanke an die Kinder und was aus ihnen werden würde, wenn man mich einlochte, keine Gewalt über dieses innere Auge gehabt, aber später, nachdem ich Selena gesagt hatte, daß sie nichts mehr zu befürchten hätte, hatte er Gewalt darüber. Dennoch wußte ich, daß das, was Selena sich am meisten wünschte - daß alles weiterging, als wäre das, was ihr Dad getan hatte, niemals passiert -, unmöglich war. Selbst wenn er sein Versprechen hielt und sie nie wieder anrührte, war es unmöglich. Außerdem war ich nicht absolut sicher, daß er sein Versprechen halten würde. Früher oder später reden sich Männer wie Joe gewöhnlich ein, daß sie das nächste Mal damit durchkommen; daß sie, wenn sie nur ein bißchen vorsichtiger sind, haben können, was immer sie wollen. 
    Als ich da im Dunkeln lag und endlich wieder ruhig geworden war, kam mir die Lösung einfach genug vor: ich mußte mit den Kindern aufs Festland ziehen, und zwar bald. Ich war damals einigermaßen ruhig, aber ich wußte, daß ich es nicht bleiben würde; dieses innere Auge würde es nicht

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