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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Brombeergestrüpp hinter dem Schuppen heruntertropfte, und auch die Tropfen an den kahlen Ästen sehen. Sie sahen aus wie Vera Donovans Brillantohrringe, nur nicht so groß.
    Das Gestrüpp war mehr als einen halben Morgen groß, und als ich mir meinen Weg hinein bahnte, war ich verdammt froh, daß ich den Regenmantel und die hohen Stiefel anhatte. Die Nässe war das wenigste, aber die Dornen waren der reinste Mord. Ende der vierziger Jahre wuchsen dort Gras und Blumen, und neben dem Schuppen hatte das Brunnenhäuschen gestanden, aber ungefähr sechs Jahre, nachdem Joe und ich geheiratet hatten und in das Haus einzogen, das ihm sein Onkel Freddy hinterlassen hatte, trocknete der Brunnen aus. Joe ließ Peter Doyon kommen, und er hat uns einen neuen angelegt, an der Westseite des Hauses. Seither haben wir keine Wasserprobleme mehr gehabt.
    Sobald wir aufgehört hatten, den alten Brunnen zu benutzen, verwandelte sich der halbe Morgen hinter dem Schuppen in dieses brusthohe Gestrüpp aus Brombeersträuchern, und die Dornen rissen und zerrten an meinem Regenmantel, als ich darin rumwanderte und nach der Bretterabdeckung auf dem alten Brunnen suchte. Nachdem sie mir an drei oder vier Stellen die Hände aufgerissen hatten, zog ich die Ärmel über sie herunter.
    Schließlich fand ich das verdammte Ding, weil ich beinahe hineingefallen wäre. Ich trat auf etwas, das gleichzeitig locker und irgendwie schwammig war, es gab ein knackendes Geräusch unter meinem Fuß, und ich trat gerade noch rechtzeitig zurück, bevor das Brett, auf das ich getreten war, durchbrach. Wenn ich Pech gehabt hätte, wäre ich nach vorn gefallen, und dann wäre wahrscheinlich die ganze Abdeckung eingebrochen und ich hätte die Katze im Brunnen gespielt.
    Ich ging auf die Knie und sah mir alles genau an. Die Abdeckung war ungefähr einen Meter breit und einsfünfundzwanzig lang; die Bretter waren alle weiß und verzogen und verrottet. Ich drückte auf eines davon, und es fühlte sich an, als drückte man auf eine Stange Lakritze. Das Brett, auf das ich meinen Fuß gesetzt hatte, war eingeknickt, und ich konnte sehen, daß frische Splitter hochstanden. Ich wäre bestimmt eingebrochen, und damals wog ich ungefähr hundertzwanzig Pfund. Joe war mindestens fünfzig Pfund schwerer als ich.
    Ich hatte ein Taschentuch bei mir. Ich band es an der Schuppenseite des Brunnens an den oberen Ast eines Strauches, damit ich ihn schnell wiederfinden konnte. Dann kehrte ich ins Haus zurück. In dieser Nacht schlief ich tief und fest und hatte zum ersten Mal, seit ich von Selena erfahren hatte, was dieser Tunichtgut von einem Vater mit ihr angestellt hatte, keine Alpträume.
    Das war Ende November, und ich hatte nicht vor, in der nächsten Zeit irgendwas zu unternehmen. Ich glaube nicht, daß ich euch sagen muß, warum, aber ich werde es trotzdem tun. Wenn ihm zu bald nach unserem Gespräch auf der Fähre etwas zustieß, konnte es sein, daß sich Selenas Augen auf mich richteten. Ich wollte nicht, daß das passierte, denn ein Teil von ihr liebte ihn immer noch und würde es vermutlich immer tun, und ich hatte Angst vor dem, was sie empfinden würde, wenn sie auch nur vermutete, was passiert war. Was sie von mir denken würde, natürlich - das versteht sich von selbst -, aber noch mehr fürchtete ich mich vor dem, was sie von sich selbst denken mochte. Was das betrifft - nun, lassen wir das fürs erste. Darauf werde ich wohl noch kommen. Vermutlich früher, als mir lieb ist.
    Also ließ ich die Zeit vergehen, obwohl das für mich immer das Schwerste gewesen ist, wenn ich mich einmal zu etwas entschlossen hatte. Jedenfalls wurden die Tage zu Wochen, wie das immer so geht. Hin und wieder fragte ich Selena nach ihm. »Ist dein Daddy brav?« fragte ich, und wir wußten beide, was diese Frage zu bedeuten hatte. Sie sagte immer ja, was eine Erleichterung war, denn wenn Joe wieder damit anfing, dann hätte ich ihn gleich loswerden müssen, und zum Teufel mit dem Risiko. Oder den Konsequenzen.
    Es gab andere Dinge, die mir Sorgen machten, als Weihnachten vorüberging und das Jahr 1963 anfing. Eines davon war das Geld - jeden Tag wachte ich auf mit dem Gedanken, daß es womöglich der Tag war, an dem er anfangen würde, es auszugeben. War es ein Wunder, daß ich mir deshalb Sorgen machte? Schließlich hatte er die ersten dreihundert schon durchgebracht, und ich hatte keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern, auch den Rest auf den Kopf zu hauen, während ich darauf wartete, daß

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