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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Kraft in der Natur des Menschen - niemand weiß das besser als ich.
    Soweit ich mich erinnere, hatte Vera an diesem Freitagabend achtzehn Hausgäste, aber bei dem Büffet am Samstagmorgen waren es noch mehr - dreißig oder vierzig, würde ich sagen. Die übrigen Leute, die mit ihr auf die Fähre gehen wollten (es waren zum größten Teil Leute von der Insel, nicht von außerhalb) würden sich gegen ein Uhr am Anleger versammeln, und gegen zwei sollte die alte Princess auslaufen. Wenn dann die Sonnenfinsternis tatsächlich eintrat - gegen halb fünf -, würden vermutlich die ersten zwei oder drei Fässer Bier bereits leer sein.
    Ich rechnete damit, daß Vera gereizt sein würde und bereit, im nächsten Augenblick aus der Haut zu fahren, aber manchmal glaube ich, daß sie es geradezu darauf anlegte, mich zu überraschen. Sie hatte ein wogendes rotweißes Ding an, das eher aussah wie ein Cape als wie ein Kleid - ich glaube, so etwas nennt man einen Kaftan -, und ihr Haar trug sie in einem simplen Pferdeschwanz, meilenweit entfernt von den Fünfzig-Dollar-Frisuren, die sie sich zu dieser Zeit gewöhnlich machen ließ.
    Sie wanderte ständig um das lange Büffet herum, das auf dem Rasen in der Nähe des Rosengartens aufgebaut war, und plauderte und lachte mit ihren Freunden - von denen die meisten, ihrem Aussehen und ihrem Reden nach zu urteilen, aus Baltimore kamen -, aber sie war an diesem Tag anders als in der Woche vor der Sonnenfinsternis. Ihr wißt noch, daß ich gesagt habe, sie sauste herum wie ein Düsenflugzeug? Am Tag der Sonnenfinsternis hatte sie mehr Ähnlichkeit mit einem Schmetterling, der eine Menge Pflanzen besucht, und ihr Lachen war nicht so schrill und laut wie sonst.
    Sie sah, wie ich eine Platte mit Rührei rausbrachte, und sie eilte auf mich zu, um mir ein paar Anweisungen zu geben; aber sie ging nicht so, wie sie in den letzten paar Tagen gegangen war - so, als wäre sie in Wirklichkeit lieber gerannt -, und das Lächeln verschwand nicht aus ihrem Gesicht. Ich dachte: Sie ist glücklich - das ist alles, was dahintersteckt. Sie hat sich damit abgefunden, daß ihre Kinder nicht kommen, und sich entschlossen, trotzdem glücklich zu sein. Und das war auch alles - sofern man sie nicht sehr gut kannte und wußte, wie selten es vorkam, daß Vera Donovan glücklich war. Eines kann ich dir sagen, Andy - ich habe sie noch fast weitere dreißig Jahre gekannt, aber ich glaube nicht, daß ich sie jemals wieder wirklich glücklich erlebt habe. Zufrieden, ja, und resigniert, aber glücklich? Strahlend und glücklich, wieein Schmetterling, der an einem heißen Sommernachmittag von einer Blüte zur anderen fliegt? Ich glaube nicht.
    »Dolores!« sagte sie. »Dolores Claiborne!« Erst sehr viel später ist mir bewußt geworden, daß sie mich bei meinem Mädchennamen gerufen hatte, obwohl Joe an diesem Morgen noch wohlauf und am Leben war, und daß sie das noch nie zuvor getan hatte. Aber als es mir dann bewußt wurde, da zitterte ich am ganzen Leibe - so, wie man angeblich zittert, wenn eine Gans über die Stelle läuft, an der man eines Tages begraben wird.
    »Guten Morgen, Vera«, sagte ich. »Tut mir leid, daß der Tag so grau ist.«
    Sie blickte zum Himmel empor, an dem tiefe, feuchte Sommerwolken hingen, dann lächelte sie. »Um drei kommt die Sonne raus«, sagte sie.
    »Das hört sich ja an, als hätten Sie eine Bestellung aufgegeben«, sagte ich.
    Das sollte natürlich ein Witz sein, aber sie nickte ganz ernsthaft und sagte: »Ja - genau das habe ich getan. Und nun gehen Sie in die Küche, Dolores, und sehen Sie nach, warum dieser unfähige Partyservice noch keinen frischen Kaffee herausgebracht hat.«
    Ich machte mich auf den Weg, um zu tun, was sie wollte, aber noch bevor ich vier Schritte auf die Küchentür zu gemacht hatte, rief sie hinter mir her, genau so, wie sie es zwei Tage zuvor getan hatte, als sie mir sagte, daß eine Frau manchmal ein Luder sein muß, um überleben zu können. Ich drehte mich um und sah schon kommen, daß sie mir genau dasselbe noch einmal sagen würde. Aber sie tat es nicht. Sie stand da in ihrem hübschen rotweißen Zeltkleid, die Hände auf den Hüften und den Pferdeschwanz über einer Schulter, und sah nicht älter aus als einundzwanzig in diesem weißen Morgenlicht. 
    »Um drei scheint die Sonne, Dolores!« sagte sie. »Sie werden’s erleben!«
    Das Büffet war um elf beendet, und um zwölf hatten ich und die Mädchen die Küche für uns allein, weil die Leute vom

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