Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
dem Leib.  Dann ging ich ins Schlafzimmer und legte mich lang. Ich zitterte am ganzen Leibe und dachte immer wieder: Was ist, wenn er immer noch nicht tot ist? Was ist, wenn er die ganze Nacht am Leben bleibt, wenn er tagelang am Leben bleibt, das Wasser trinkt, das zwischen den Steinen heraussickert oder im Schlamm hochkommt? Was ist, wenn er so lange um Hilfe schreit, bis einer von den Carons oder den Langills oder den Jolanders ihn hört und Garrett Thibodeau ruft? Oder was ist, wenn morgen jemand herkommt - einer seiner Saufkumpane oder jemand, der möchte, daß er auf seinem Boot aushilft oder einen Motor repariert - und die Schreie hört, die aus dem Brombeergestrüpp kommen? Was dann, Dolores? 
    Da war noch eine andere Stimme, die all diese Fragen beantwortete. Ich nehme an, sie gehörte zu dem inneren Auge, aber für mich hörte sie sich mehr nach Vera Donovan an als nach Dolores Claiborne; sie hörte sich forsch und trocken an und nach Leck-mich-am-Arschwenn-esdir-nicht-paßt. Natürlich ist er tot, sagte diese Stimme, und wenn er es noch nicht ist, wird er es bald sein. Er wird an Schock und Unterkühlung und zerfetzten Lungen sterben. Vermutlich gibt es Leute, die nicht glauben, daß ein Mann in einer Julinacht an Unterkühlung sterben kann, aber das sind Leute, die noch nie ein paar Stunden zehn Meter unter der Erdoberfläche verbracht haben, knapp drei Meter über feuchtem Grundgestein. Ich weiß, daß es nicht angenehm ist, an dergleichen zu denken, Dolores, aber es bedeutet zumindest, daß du aufhören kannst, dir Sorgen zu machen. Schlaf eine Weile, und wenn du dann wieder hinausgehst, wirst du es erleben.
    Ich weiß nicht, ob das, was diese Stimme sagte, vernünftig war oder nicht, aber es schien vernünftig zu sein, und ich versuchte zu schlafen. Aber ich brachte es nicht fertig. So oft ich einnickte, war mir, als hörte ich Joe, der an der Seite des Schuppens entlang auf die Hintertür zutaumelte, und bei jedem Knarren im Haus fuhr ich zusammen.
    Schließlich wurde es mir zuviel. Ich vertauschte mein Kleid gegen Jeans (schließ die Stalltür ab, nachdem das Pferd gestohlen ist, werdet ihr vermutlich denken) und klaubte die Taschenlampe vom Badezimmerboden auf, wo ich sie hatte hinfallen lassen, als ich niederkniete, um in das Klobecken zu kotzen. Dann ging ich wieder hinaus. 
    Es war dunkler als je zuvor. Ich weiß nicht, ob es in dieser Nacht einen Mond gegeben hat, aber selbst wenn einer da gewesen wäre, hätte es nichts geändert, denn der Himmel war wieder bewölkt. Je näher ich dem Brombeergestrüpp hinter dem Schuppen kam, desto schwerer wurden meine Füße, und als ich im Licht der Taschenlampe die Brunnenabdeckung sehen konnte, war mir, als könnte ich sie überhaupt nicht mehr regen. 
    Ich tat es trotzdem - zwang mich, bis an den Brunnen heranzugehen. Dann stand ich fast fünf Minuten lang da, und ich hörte nichts außer den Grillen und dem Wind, der in den Brombeersträuchern raschelte, und einer Eule, die irgendwo schrie - wahrscheinlich war es dieselbe, die ich vorher schon gehört hatte. Ach ja, irgendwo weit weg im Osten konnte ich das Anbranden der Wellen an das Vorgebirge hören, aber das ist ein Geräusch, an das man auf der Insel so sehr gewöhnt ist, daß man es kaum noch wahrnimmt. Ich stand da mit Joes Taschenlampe in der Hand, richtete das Licht auf das Loch in der Abdeckung, spürte, wie mir am ganzen Körper fettiger, klebriger Schweiß ausbrach und in den Rissen brannte, die mir die Brombeerdornen beigebracht hatten, und ich befahl mir, niederzuknien und in den Brunnen hinunterzuschauen. War ich nicht gekommen, um genau das zu tun? 
    Das war ich, aber als ich tatsächlich am Brunnen stand, brachte ich es nicht fertig. Ich konnte nur zittern und in meiner Kehle einen dumpfen, stöhnenden Laut hervorbringen. Auch mein Herz schlug nicht richtig, es schwirrte in meiner Brust wie die Flügel eines Kolibris. 
    Und dann reckte sich eine weiße, mit Dreck und Blut und Moos verschmierte Hand aus dem Brunnen und packte meinen Knöchel.
    Ich ließ die Lampe fallen. Sie landete im Gebüsch am Rand des Brunnens, was ein Glück für mich war; wenn sie in den Brunnen reingefallen wäre, hätte ich ganz tief in der Scheiße gesessen. Aber ich dachte nicht an die Taschenlampe oder an mein Glück - die Scheiße, in der ich saß, war auch so schon dick genug, und das einzige, woran ich dachte, war die Hand an meinem Knöchel, die Hand, die mich zu dem Loch hinzerrte. Das, und ein

Weitere Kostenlose Bücher