Dom Casmurro
Füße, die ständig in Bewegung waren und nicht stillhalten konnten. Diese fehlende Ruhe stellte für ihn das größte Hindernis dar, sich an die Gepflogenheiten des Seminars zu gewöhnen. Sein Lächeln war genauso flüchtig wie der Rest, aber manchmal lachte er auch unbeschwert und herzlich. Eines war jedoch weniger unruhig als alles andere: sein Geist. Wir trafen ihn oftmals nachdenklich und in sich gekehrt an. Dann sagte er uns, er meditiere über ein spirituelles Thema oder sinne über die Lektion des Vortages nach. Als wir uns näherkamen, bat er mich häufig, ihm etwas zu erklären oder genauestens zu wiederholen, und das behielt er alles im Gedächtnis, Wort für Wort. Vielleicht gereichte diese Fähigkeit anderen Charaktereigenschaften zum Schaden.
Er war drei Jahre älter als ich, Sohn eines Rechtsanwaltes aus Curitiba, der mit seinem Schwager, einem Kaufmann aus Rio, ein gemeinsames Geschäft betrieb. Der Vater war streng katholisch. Escobar hatte eine Schwester, die ein Engel sei, wie er sagte.
«Sie besitzt nicht nur die Schönheit eines Engels, sondern auch seine Güte. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein guter Mensch sie ist. Sie schreibt mir oft, ich werde dir ihre Briefe zeigen.»
In der Tat waren ihre Briefe erfüllt von reinen Gefühlen und liebevollen, zärtlichen Ratschlägen. Escobar erzählte mir viel von ihr, interessante Geschichten, die all ihre Güte und geistige Größe aufzeigten; es waren so viele, dass ich sie bestimmt geheiratet hätte, wäre da nicht Capitu gewesen. Sie starb kurze Zeit später. Seine Worte hätten mich beinahe dazu verleitet, ihm gleich alles, meine ganze Geschichte zu erzählen. Anfangs war ich zwar schüchtern, doch er schaffte es, mein Vertrauen zu gewinnen. Er konnte seine Unruhe auch bezwingen, wenn er wollte, und die Umgebung schwächte sie mit der Zeit ebenfalls ab. Escobar öffnete mir sein Herz, von der Vordertür bis zum hintersten Winkel im Garten. Das Herz der Menschen ist, wie ihr wisst, als Haus angelegt, nicht selten mit Fenstern nach allen Seiten, viel Licht und klarer Luft. Es gibt auch solche, die verschlossen und dunkel sind, ohne Fenster oder nur mit ganz wenigen, vergitterten, wie in einem Kloster oder Gefängnis. Andere wiederum sind wie Kapellen oder Basare, einfache Schuppen oder prächtige Paläste.
Ich weiß nicht, wie das meine war. Damals war ich noch kein griesgrämiger «Casmurro» und auch noch kein «Dom Casmurro»; es war die Angst, die meine Offenheit bremste, doch da die Türen weder ein Schloss noch einen Schlüssel besaßen, brauchte man sie nur aufzustoßen. Und Escobar stieß sie auf und trat ein. Irgendwann war er darinnen, und dort blieb er, bi s …
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In Vorbereitung
Ach, es waren nicht nur die Seminaristen, die mich aus diesen alten Seiten des «Lobliedes» ansprangen. Es waren auch die alten Gefühle, so mächtig und zahlreich, dass ich sie gar nicht alle aufzählen könnte, ohne dem restlichen Text seinen Platz zu rauben. Eines davon, eines der ersten, würde ich hier gern auf Lateinisch beschreiben. Natürlich fände man für das Thema auch Worte in unserer Sprache, die keusch ist für die Keuschen und unzüchtig für die Unzüchtigen. Ja, du keuscheste aller Leserinnen, wie mein seliger José Dias sich ausdrücken würde, du kannst das Kapitel ruhig zu Ende lesen, ohne Schrecken oder Qualen befürchten zu müssen.
Aber ich werde meine Geschichte doch lieber in ein anderes Kapitel packen. So gut mir dieses auch gelingen mag, hat meine Geschichte doch eine leichtfertige Seite, die einige Zeilen der ruhigen Vorbereitung bedarf. Diene dieses Kapitel also der Vorbereitung. Das ist durchaus wichtig, mein lieber Leser. Hat das Herz nämlich die Möglichkeit zu sehen, was auf es zukommt, und erkennt es Größe und Ausmaß der Ereignisse, wird es stark und bereit sein, und das Übel wird zum kleineren Übel werden. Gelingt ihm dies nicht, wird es ihm niemals gelingen. Und hieran kannst du bereits meine Schlauheit erkennen, lieber Leser, denn wenn du nun das Folgende liest, wird es dir vermutlich weniger derb vorkommen als erwartet.
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Der Pakt
Eines Montags, als ich gerade ins Seminar zurückkehrte, sah ich auf der Straße eine Dame stürzen. Ein solches Ereignis sollte eigentlich Mitleid oder Heiterkeit bei mir auslösen. Doch ich empfand weder das eine noch das andere, denn (und das war es, was ich auf Latein niederschreiben wollte) die Dame trug blitzsaubere Strümpfe, die sie auch nicht beschmutzte, und
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