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Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
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Blätter riefen so viele Erinnerungen wach, dass sie ein ganzes Kapitel oder sogar mehrere füllen könnten. Vorher jedoch, und weil ich selbst auch mein «Loblied» hatte, werde ich euch die Geschichte eines Sonetts erzählen, das ich nie geschrieben habe. Es war zur Zeit des Seminars, und der erste Vers lautete folgendermaßen:
    O Blume des Himmels! O weiße, reine Blume!
    Wie und warum mir dieser Vers in den Sinn kam, weiß ich nicht; er kam einfach so, als ich im Bett lag, wie ein unwillkürlicher Ausruf, und als ich merkte, dass er das Maß eines Verses hatte, überlegte ich, damit etwas zu dichten, ein Sonett. Die Schlaflosigkeit, Muse mit aufgerissenen Augen, hielt mich eine Stunde oder gar zwei wach; es juckte mich in den Fingern, etwas zu verfassen, und diesem Drang gab ich mich ganz hin. Ich entschied mich indes nicht sofort für das Sonett. Anfangs dachte ich an eine andere Form, in Versen oder auch mit freiem Reim, doch dann hielt ich mich an das Sonett. Es ist ein kurzes, brauchbares Gedicht. Was den Inhalt anbetraf, so stellte dieser erste Vers noch gar keinen dar, er war ein Ausruf; der Inhalt würde später dazukommen. Als ich nun, eingehüllt in mein Laken, im Bett lag, versuchte ich zu dichten. Ich war aufgeregt wie eine Mutter, die ihr Kind im Bauch spürt, ihr erstes. Ich würde Dichter werden, würde mit diesem Mönch aus Bahia wetteifern, der kurz zuvor entdeckt worden und in Mode gekommen war; ich, der Seminarist, würde meine Traurigkeit in Verse fassen, so wie er die seinen im Kloster niedergeschrieben hatte. Ich lernte den Vers auswendig und wiederholte ihn leise für meine Laken. Ich fand ihn einfach hübsch, und auch heute noch erscheint er mir nicht schlecht:
    O Blume des Himmels! O weiße, reine Blume!
    Wer war die Blume? Capitu natürlich; es konnte aber auch die Tugend sein, die Poesie, die Religion, irgendein anderer Begriff, der zur Metapher der Blume passte, der Blume des Himmels. Ich wartete auf den Rest, während ich unentwegt den Vers aufsagte, mal auf der linken, mal auf der rechten Seite liegend. Schließlich drehte ich mich auf den Rücken, die Augen zur Decke gewandt, doch nicht einmal so kamen mir weitere Verse in den Sinn. Da fiel mir ein, dass die meistgepriesenen Sonette mit einem goldenen Schlüssel endeten, sprich, mit einem Vers, der in Inhalt und Form vollendet war. Ich versuchte also, einen solchen Schlüssel zu schmieden, wobei ich mir überlegte, dass ein Schlussreim, wenn er chronologisch aus den dreizehn vorherigen hervorging, nur schwerlich diese vielgepriesene Vollkommenheit aufweisen konnte. Daher kam mir der Gedanke, dass derartige Schlüssel vor dem Schloss geschmiedet wurden. Also beschloss ich, den letzten Vers des Sonetts zu komponieren, und brachte schließlich im Schweiße meines Angesichts den folgenden zustande:
    Das Leben ist verloren, gewonnen ist die Schlacht!
    Ohne falsche Bescheidenheit und gänzlich unvoreingenommen erkannte ich: Es war ein großartiger Vers. Wohlklingend, ganz ohne Zweifel. Und er beinhaltete einen Gedanken, den des Sieges, der auf Kosten des eigenen Lebens errungen wird, einen hehren, edlen Gedanken. Vielleicht war er nicht neu, gut möglich, aber ein Gemeinplatz war er nicht; und selbst heute kann ich mir noch nicht erklären, auf welch mysteriöse Weise er in meinen jugendlichen Kopf gelangte. Damals fand ich ihn einfach erhaben. Ich rezitierte den goldenen Schlüssel einmal und noch viele weitere Male. Dann wiederholte ich die beiden Verse hintereinander und versuchte, die zwölf dazwischenliegenden zu finden. Angesichts des letzten Verses erschien es mir besser, wenn die Grundidee nicht mehr Capitu wäre, sondern die Gerechtigkeit. Es wäre passender zu sagen, man habe im Kampf für die Gerechtigkeit sein Leben gelassen, obwohl die Schlacht gewonnen war. Mir kam auch in den Sinn, die Schlacht in ihrem eigentlichen Sinne zu verwenden und daraus zum Beispiel den Kampf für die Heimat zu machen; in diesem Fall wäre die Blume des Himmels dann die Freiheit. Diese Deutung wäre aber vielleicht nicht ganz so passend wie die erste, zumal der Dichter ein Seminarist war, und so brachte ich ein paar Minuten damit zu, das eine gegen das andere abzuwägen. Die Gerechtigkeit gefiel mir besser, doch am Ende entschied ich mich für eine dritte Lösung, nämlich die Nächstenliebe, und rezitierte die beiden Verse auf unterschiedliche Weise, den einen sehnsuchtsvoll:
    O Blume des Himmels! O weiße, reine Blume!
    und den anderen voll

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