Dom Casmurro
Stolz:
Das Leben ist verloren, gewonnen ist die Schlacht!
Mein Gefühl sagte mir, dass es ein vollkommenes Sonett werden würde. Ein guter Anfang und ein guter Schluss waren nicht wenig. Um mich inspirieren zu lassen, rief ich mir ein paar berühmte Sonette in Erinnerung und stellte fest, dass die meisten von ihnen ganz simpel waren; die Verse gingen auf einfache Weise auseinander hervor, und die Idee war so natürlich darin enthalten, dass man am Ende nicht wusste, ob sie es war, die die Verse geschaffen hatte, oder ob die Verse sie hervorgebracht hatten. Dann widmete ich mich wieder meinem eigenen Sonett, wiederholte erneut den ersten Vers und wartete auf den zweiten. Der zweite kam nicht, und auch nicht der dritte oder der vierte; es kam kein einziger. Wut wallte in mir auf, und ich dachte mehrfach daran, aufzustehen und zu Papier und Feder zu greifen. Vielleicht stellten die Verse sich ja beim Schreiben ein, abe r …
Des Wartens müde kam ich auf die Idee, den Sinn des letzten Verses durch eine einfache Umstellung zweier Wörter zu verändern, nämlich so:
Das Leben ist gewonnen, verloren ist die Schlacht!
Der Sinn wurde dadurch in sein Gegenteil verkehrt, aber vielleicht brächte mir das ja die Inspiration. In diesem Fall war es eine Ironie: Übte man keine Nächstenliebe, konnte man zwar das Leben gewinnen, verlöre aber die Schlacht des Himmels. Ich schöpfte neue Kraft und wartete. In meinem Zimmer gab es kein Fenster; hätte es eines gegeben, hätte ich vermutlich die Nacht um einen Einfall gebeten. Und wer weiß, vielleicht wären die unter mir leuchtenden Glühwürmchen so etwas wie Sternenreime für mich geworden, und diese lebendige Metapher hätte mir die mich fliehenden Verse mit all ihren Konsonanten und ihrem ureigenem Sinn zurückgebracht.
Ich bemühte mich vergebens, suchte, sammelte, wartete; die Verse kamen nicht. Später schrieb ich dann ein paar Prosaseiten, und nun verfasse ich diese Erzählung, und das Schreiben, sei es gut oder schlecht, ist kein größeres Problem mehr. Nun denn, meine Herren, ich bin untröstlich wegen dieses nicht verfassten Sonettes. Da ich jedoch glaube, dass aus irgendeinem metaphysischen Grunde sowohl die Sonette wie auch die Oden, Dramen und alle übrigen Kunstwerke bereits fertig existieren, schenke ich diese beiden Verse dem erstbesten Müßiggänger, der sie haben möchte. So kann er am Sonntag oder an einem Regentag, auf einer Landpartie oder in irgendeiner freien Stunde versuchen, das Sonett zu vollenden. Er muss ihm ja nur noch eine Idee zuordnen und die fehlende Mitte hinzufügen.
56
Ein Seminarist
Solcher Art waren die Erinnerungen, die dieses teuflische Büchlein mit seinen alten Lettern und lateinischen Zitaten in mir auslöste. Ich sah Gesichter von Seminaristen aus seinen Seiten hervortreten: Die Brüder Albuquerques zum Beispiel, von denen einer heute Domherr in Bahia ist, während der andere später Medizin studierte und angeblich ein Mittel gegen Gelbfieber entdeckte. Ich erblickte Bastos, einen mageren Jungen, heute Vikar in Meia-Ponte 38 , falls er nicht schon gestorben ist; Luís Borges, der, obgleich Pater, in die Politik ging und Senator des Kaiserreichs wurd e … Und wie viele andere Gesichter sahen mich aus diesen kalten Seiten des «Loblieds» an! Nein, kalt waren sie nicht, denn sie enthielten die Wärme der erblühenden Jugend, die Wärme der Vergangenheit und meine eigene. Ich wollte sie noch einmal lesen, und es gelang mir auch, einen Teil davon zu verstehen. Alles war so frisch wie am ersten Tag, wenngleich kurzlebiger. Es war eine Freude, diese Seiten anzusehen, und manchmal blätterte ich unbewusst um, als läse ich ernsthaft. Ich glaube, das passierte dann, wenn meine Augen auf das letzte Wort der Seite fielen, und meine Hand, daran gewöhnt, sie zu unterstützen, ihren Dienst ta t …
Ein weiterer Seminarist tauchte aus diesen Seiten auf. Sein Name war Ezequiel de Sousa Escobar. Er war ein schlanker Junge mit hellen Augen, die unruhig waren wie seine Hände, seine Füße, seine Sprache, wie alles an ihm. Wer ihn nicht kannte, konnte einen merkwürdigen Eindruck von ihm bekommen, weil man nicht wusste, wie man ihn anpacken sollte. Er sah einem nicht ins Gesicht, sprach weder klar noch geordnet, sein Händedruck war schlaff, und er entzog sich auch dem seines Gegenübers, denn wenn dieses meinte, Escobars kleine, schlanke Finger zwischen den seinen zu halten, waren sie ihm bereits wieder entglitten. Dasselbe galt für seine
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