Dom Casmurro
vorher nie in Betracht gezogen. Ich lebte so sehr mit ihr, durch sie und für sie, dass das Auftauchen eines Burschen für mich keine reale Vorstellung gewesen war; mir war ja nicht einmal in den Sinn gekommen, dass es in der Nachbarschaft Burschen verschiedenen Alters und Charakters gab, die alle gern abends herumspazierten. Jetzt fiel mir auch ein, dass einige von ihnen Capitu bereits Blicke zugeworfen hatten, aber ich hatte Capitu so sehr als die meine betrachtet, dass sie auch mir hätten gelten können, weil die Burschen mir Neid und Bewunderung schuldeten. Nun, da das Schicksal uns räumlich getrennt hatte, erschien mir dieses Unglück nicht nur möglich, sondern sicher zu sein. Und Capitus Fröhlichkeit bestätigte den Verdacht. Wenn sie fröhlich war, war sie bereits in einen anderen verliebt, würde ihm auf der Straße nachsehen, an ihrem Fenster und bei den Ave-Marias mit ihm sprechen, Blumen von ihm bekommen un d …
Un d … was? Weißt du, was sie sonst noch bekommen würde? Wenn du es nicht selbst herausfindest, brauchst du den Rest dieses Kapitels und des Buches gar nicht mehr zu lesen, denn hier wirst du nichts finden, selbst wenn ich es mit allen Buchstaben unserer Sprache auszudrücken suchte. Hast du es jedoch erraten, so wirst du verstehen, dass ich nach diesem Schrecken drauf und dran war, durch das Tor hinaus und den Hügel hinab zum Haus des alten Pádua zu stürzen, Capitu herauszuzerren und sie zu zwingen, mir zu gestehen, wie viele, ja, wie viele ihr der Bursche aus der Nachbarschaft schon gegeben hatte. Ich unternahm nichts. Meine Fantasien, die mir drei bis vier Minuten lang durch den Kopf schossen, waren nämlich keineswegs so wohlgeordnet und schlüssig, wie ich sie hier dargelegt habe. Eher glichen sie einer unvollständigen, schiefen, immer wieder korrigierten Zeichnung, einem Durcheinander, einem Wirbel, der mich blind und taub machte. Als ich wieder zu mir kam, beendete José Dias gerade auf recht vage Weise einen Satz, dessen Anfang mir entgangen war: «… das Bild, das man von sich abgibt». Wer sollte was für ein Bild abgeben? Ich dachte natürlich, er spräche immer noch von Capitu, und wollte ihn fragen, wie er das meine, doch der Vorsatz wurde im Keime erstickt, wie so viele Generationen vor ihm. Daher fragte ich den Hausfreund nur, wann ich nach Hause könne, meine Mutter besuchen.
«Ich habe solche Sehnsucht nach Mama. Kann ich diese Woche schon nach Hause?»
«Ja, am Samstag.»
«Am Samstag! Au ja! Sagen Sie Mama, sie soll mich am Samstag abholen lassen. Sie meinen doch diesen Samstag? Sie soll mich unbedingt abholen lassen.»
63
Die beiden Hälften eines Traumes
Ich wartete sehnsüchtig auf den Samstag. Bis dahin verfolgten mich die Träume, selbst wenn ich wach war, aber ich will sie hier nicht erzählen, damit dieser Teil des Buches nicht zu sehr ausgewalzt wird. Ich werde nur einen erwähnen, und zwar möglichst knapp, doch eigentlich sind es zwei, denn der eine erwuchs aus dem anderen, oder sie bilden gar die beiden Hälften eines einzigen Traumes. Das Ganze ist verwirrend, verehrte Leserin, aber schuld daran ist dein Geschlecht, das die Jugend dieses armen Seminaristen so sehr durcheinanderbrachte. Gäbe es dein Geschlecht nicht, wäre dieses Buch vielleicht eine einfache Gemeindepredigt geworden, falls ich Priester geworden wäre, oder ein Hirtenbrief, falls ich Bischof geworden wäre, oder eine Enzyklika, falls ich Papst geworden wäre, wie Onkel Cosme mir geraten hatte: «Auf geht’s, mein Junge, und komm mir als Papst wieder!» Und warum habe ich ihm diesen Wunsch nicht erfüllt? Seit Napoleon, dem Leutnant und Kaiser, ist in diesem Jahrhundert schließlich alles möglich.
Der Traum war folgendermaßen: Als ich den Burschen aus der Nachbarschaft nachspionierte, entdeckte ich einen, der mit meiner Freundin am Fenster plauderte. Ich lief auf ihn zu, und er flüchtete. Dann näherte ich mich Capitu, doch sie war nicht allein, ihr Vater stand neben ihr. Er wischte sich die Augen und betrachtete ein trauriges Lotterielos. Da ich das nicht recht verstand, wollte ich ihn um eine Erklärung bitten, doch er gab sie mir von sich aus. Der Bursche hatte ihm die Liste der Lotteriepreise gebracht, und sein Los war eine Niete gewesen. Es trug die Nummer 4004. Er sagte, die Zahlensymmetrie sei schön und geheimnisvoll, vermutlich habe bei der Ziehung das Rad geklemmt. Es müsse einfach das große Los sein. Während er redete, versprach Capitu mir mit ihren Augen
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